Immer auf der Flucht, doch angekommen im Hafen: Konrad Fleger
(siehe auch www.hussinetz.de)

frei nach einem mündlichen Bericht
von Dr. Hans-Dieter Langer, Niederwiesa

Maria und Nikolaus Fleger, seine hussitisch gläubigen, bäuerlichen Vorfahren (die übrigens auch die des Autors sind), flüchteten einst im Schutz preußischer Truppen vor dem lebensgefährlichen katholischen Kult der österreichischen Monarchie aus Böhmen. Sie gründeten mit Unterstützung von Konzessionen Friedrichs des Großen sowie Geldspenden protestantischer Gönner in Holland und in der Schweiz das Dorf Husinec/Hussinetz bei Strehlen in Schlesien. Doch das war 200 Jahre her, und man ist inzwischen als Deutscher geboren worden, wenn sich auch die alte böhmische Kultur quasi unauslöschlich im beruhigten Kreislauf verankert hatte.

Der Zweite Weltkrieg mit seinen tiefgreifenden Folgen brachte jedoch für die Kleinstadt Strehlen und die sogenannten böhmischen Dörfer in ihrem Landkreis den Infarkt. Die Herzen waren jedenfalls dem Stillstand nahe als es plötzlich hieß: Die Russen kommen! Die mäßig geordnete „Flucht“ - eigentlich war dies eine „geplante“ Evakuierung - vor den heran rückenden Russen förderte wieder den Albtraum der Heimatlosigkeit herauf. Am wenig darauf vorbereiteten Ziel kurz vor der tschechischen Grenze angelangt, richteten sie sofort ihren Blick zurück auf ihr Stammgebiet, wo sich allerdings die Front fest gefahren hatte und daher ein unerhörtes Zerstörungswerk anrichtete. Ja, sie schickten sogar ihre Kundschafter mitten in die Kampfzone, um den richtigen Augenblick der ersehnten Rückkehr zu ermitteln. Schlesien wird niemals aufgegeben, hatte Hitler versprochen! Es kam aber alles anders.

Dass ihr Haus in Mehltheuer, vormals Podiebrad, den Krieg überdauert hatte, wussten sie also bereits. So gab es jetzt nur ein Motiv, um das Glatzer Bergland vergessen zu machen: Zurück ins Dorf! 

Dorfstraße Podiebrad

Bild 1: Anfang des 20. Jahrhunderts hieß Mehltheuer - hier die Dorfstrasse - noch Podiebrad und war fest in 
                der Hand der „Böhmischen“.

Konrads erster Gang galt zudem der Utikal-Bäckerei in Friedrichstein alias Hussinetz. Er, der 1929 Geborene, wollte doch seine Bäcker-Lehre fortführen (obgleich in seinen Gedanken längst ein anderer Traumberuf herum geisterte). Voller Entsetzen stand er dann vor dem Trümmerhaufen, von dem „kein Stein auf dem anderen geblieben war“: Aus und vorbei mit der schönen Bäckerei!

Inzwischen staute sich neuer Frust an, weil ein Pole ihr Haus beanspruchte. (Auch stand zu dieser Zeit noch nicht die alternative Forderung des Jahres 1950, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, nachdem die DDR die Oder-Neiße-Grenze anerkannte.) So kam es, dass man sich bei Flegers´s relativ frühzeitig des „Landes der Väter“ besann und mit zwei weiteren, ebenfalls in die Enge getriebenen Familien nach Tschechien aufbrach. Dort siedelte man sich als aus Polen verscheuchte Deutsche im inzwischen fast menschenleeren Gebiet der von Tschechen  vertriebenen Sudetendeutschen an. Das konnte ganz einfach nicht gut gehen. Im September 1947 forderte sie und andere eingesickerte Umsiedler nämlich der zuständige Polizeidirektor urplötzlich zum Verlassen des Landes auf. 

Bauerngut

Bild 2: Klein und bescheiden waren die Bauerngüter mit ihren Ackerflächen von nur ca. 2 ha in den 
                „böhmischen Dörfern“ bei Strehlen/Schlesien vor 100 Jahren. Heimat hat aber nichts mit Größe oder 
                Wohlstand zu tun. Vielmehr gibt es im Schmerz keine Unterschiede, wenn sie einem gewaltsam 
                entzogen wird.

Ein ganzer Zug (!) füllte sich zwangsweise mit Betroffenen. Man stand zunächst ganze drei Tage auf dem Bahnhof herum, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Nicht aber Konrad. So wie er am Bahnsteig in den Zug einsteigen musste, verließ er prompt das beräderte Anwesen auf der anderen Seite und suchte das Weite. Sein Ziel war ein Fleger-Onkel aus Hussinetz, der sich im November 1945 der Gruppe von 650 Freiwilligen angeschlossen hatte und - diesmal planmäßig und unter halbwegs geordneten Verhältnissen - ebenfalls im Egerland angesiedelt worden ist. Der gewitzte Konrad schaffte es, so dass die Kühe, die der Onkel schon wieder besaß, fortan einen Betreuer in Aussicht hatten. Konrad war nun bereit, das Erbe seiner bäuerlichen Urahnen anzutreten, die einst die böhmischen Dörfer rund um das schlesische Strehlen gegründet hatten.

Der ländliche Scheinfrieden war jedoch nicht von langer Dauer, denn bei gewissen tschechischen Geheimdiensten stand Konrad natürlich auf der Fahndungsliste. Der zuständige Gemeindepolizist tauchte schon einen Tag später gleich mit einem Haftbefehl auf, so dass der Weg ins Gefängnis zu Marienbad geebnet war. Dort dauerte der vergitterte Auftritt allerdings auch nur einen Tag. Was war geschehen? Nun, der Zug mit den Ausgewiesenen - in dem sich ja auch Konrad´s Familie in jeder Hinsicht im Ungewissen befand - war inzwischen nach Norden (!) abgedampft und erreichte irgendwann die Grenze der ... deutschen Ostzone. Damit hatte niemand gerechnet, gleich gar nicht die ostdeutsche Grenzpolizei. In erstaunlicher Verblüffung wandte man sich telefonisch an das zuständige Ministerium in Prag. Und jetzt kam der Schwindel heraus. Der Marienbader Polizei-Chef hatte doch tatsächlich aus offiziell-tschechischer Sicht illegal gehandelt. Daher wurde das Unternehmen sofort zurück gekurbelt, und der voll besetzte Zug fuhr an einem Nachmittag wieder in Marienbad ein. Das war das Befreiungssignal für den inhaftierten Konrad. Durch die geöffneten  Gefängnistüren huschte eine Gestalt, die sich nun endgültig aus dem Staube zu machen gedachte.

Pilsen - Prag - Podiebrad hieß die neuerliche „Flucht“-Odyssee. Die zufällige Endstation hatte ebenfalls rein zufällig den gleichen Namensgeber wie einst sein Geburtsort in Schlesien vor der von Hitler verordneten „Rückbenennung“ nach dem Jahr 1936, also z.B. Hussinetz zu Friedrichstein und eben die drei Podiebrad´s in Mehltheuer. Hier, also im urtschechischen Podebrady,  geriet Konrad jedenfalls ins Biergetriebe. Die örtliche Brauerei besaß große Kelleranlagen, wo die noch größeren, fest installierten Fässer nicht mehr ganz keimfrei waren. Daher konnte Konrad gleich im dreifachen Sinne abtauchen - Podebrady, Keller der Bierbrauerei, Fassinneres - denn ihm oblag ab sofort die Reinigung der bauchigen Gebilde. Dort, in einem der Zentren böhmischer Braukunst, hielt es der Junge fast ein Jahr aus, vermutlich auch, weil es in der Bierfabrik nicht nur Arbeit gab.

Derweil nahm der Vater in seiner Not die tschechische Staatsbürgerschaft an, so dass familiär wieder geordnete Verhältnisse eintraten. Jetzt brach bei Konrad allerdings der alte Traumgedanke ans Tageslicht, nämlich das schier unerklärliche Interesse an der Binnenschifffahrt. Also musste gehandelt werden. Schnell war die zuständige Prager Direktion ausgemacht und der entsprechende Jobantrag vorgelegt. Hurtig fand sich der junge Mann im Prager Moldauhafen auf einem rostigen Ausflugsdampfer wieder. Falls freilich zu jener Zeit überhaupt jemand an Schiffsausflüge dachte, so doch keinesfalls über die Grenze nach Deutschland hinaus. Die Deutschen standen schließlich noch auf der Schwarzen Liste. Konrads Phantasie hatte jedoch längst Hamburg ausgemacht. An dieser Stelle irrt freilich jeder, der etwa annimmt, dass Konrad neuerliche Fluchtgedanken hegte oder gar an Schiffe auf hoher See dachte. Er träumte wirklich nur vom Beruf des Binnenschiffers!

Insofern war der baldige Wechsel zu Bugsier- Schraubenschiffen nur konsequent, denn die kreuzten tatsächlich bereits zwischen Prag und Usti nad Labem. Und wer erst einmal Elbwasser riecht, dem wird es nicht langweilig, zumal, wenn man sich als Meister im Umgang mit Seifenwasser und Farbtöpfen erweist. Konrad machte aus uralten Pötten prächtige Schaufelrad-Dampfer, so dass man sich 1949 erstmals mit stimmungsvollen Menschen- und vor allem dringenden Materialtransporten - über die Grenze traute. Die Reise ging ja nun in eine aus Ruinen erstandene Deutsche Demokratische Republik.

Geschafft!!! Der Fuß erreichte allerdings noch nicht urdeutschen Boden als sich die hiesige Polizei in Form zweier Volkspolizisten (Vopos) in die Quere stellte. Zum Glück: „Schlesier?“ Ach ja, die guten alten Zeiten. Die Vopos wurden spontan gesprächig, denn die beiden brauchten in Wirklichkeit Hilfe: Man hatte zu Bad Schandau einen Polizei-Fußballverein gegründet. Es bedurfte leider nur noch eines Fußballs, denn in der jungen DDR fehlte es an allem! (Niemand freilich ahnte damals, dass sich dieser Mangelwurm für immer im sozialistischen Humusboden festsetzen sollte.) Die traditionelle Lederindustrie kam in Tschechien andererseits schon ganz schön in Fahrt, so dass gewitzte DDR-Bürger noch in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die CSSR bereisten, um Schuhe zu kaufen. Doch das war selbst für Bad Schandauer vorerst noch Zukunft, aber Fußbälle gab es im künftigen Bruderland bereits, und zwar auf Bezugsscheine. Konrad sagte leichtsinnig Hilfe zu, vielleicht auch, um unbehelligt bis Riesa vorzustoßen. Mit Salz im Schlepp ging es zurück nach Decin, wo Konrad sofort im Sportgeschäft vorstellig wurde, denn versprochen ist versprochen. Und bitte, kein Ärger mit dem deutschen Zoll! Aber die Verkäuferin wollte pflichtgemäß Papiere sehen, doch - „R-Quadrat mal Pi!“ - sie konnte dem charmanten Konrad letztlich nicht widerstehen: Ein Fußball und eine Luftpumpe wechselten geräuschlos den Besitzer. Für die Vopos gestaltete sich dafür beim nächsten Anlegen in Bad Schandau die Übergabe zum wahren  Freudenfest. Sie sammelten Geld (20,- Mark) und schlossen den Konrad ins Herz. Noch lange - der tschechische Kahn mit Konrad fuhr bereits bis Hamburg und der böhmische Kapitän war Fußballfan geworden - wurde bei den Zwischenstationen in Bad Schandau an Bord bis in die Nacht gefeiert, und man sang mit Inbrunst ... alte deutsche Kampflieder. (Die sozialistischen Persönlichkeiten entwickelten sich erst viel später, und bei der Ostzonen-Polizei vielleicht zuletzt.) 

Wir registrieren jedenfalls vorerst den Beginn des Jahres 1951, und die Welt auf beiden Seiten des Erzgebirges war wieder oder scheinbar noch in Ordnung. Fast im Widerspruch dazu - weil ja zudem dieses Gebirge nicht die eigentlichen politischen Welten trennte - stand die plötzliche Aufforderung zur Musterung. Konrad schaffte es beim ersten Mal, regelrecht ausgemustert zu werden. Beim dritten Versuch des beharrlichen tschechoslovakischen Militärs ging der Kampf für ihn freilich verloren: Einberufung zu den Pionieren in Bratislava, und zwar zum 1. November 1951. Das bedrohliche Schriftstück erreichte den jungen Schiffer ausgerechnet in Hamburg, wo es leider auch eine von den deutschen Behörden anerkannte Inspektoren-Vertretung der CSSR gab. 

Man musste also als angehender Flüchtling auch vor bundesdeutschen Polizei-Fahndern auf der Hut sein. Konrad suchte in seiner Not die Familie von Rudolf Pultar in Hamburg-Altona auf, die ebenfalls aus der engeren schlesisch-böhmischen Heimat stammte, um sich Rat zu holen. Adressen im Kopf, das war eine seiner Stärken. Dazu gehörte natürlich auch die seines Bruders in Paderborn. Pultar´s rieten zum Handeln, denn am 2. Oktober 1951 machte der tschechische Inspektor klaren Tisch: Marsch zurück, und ab zum Militär!

In der folgenden Nacht sah (?) man Konrad im rasenden Tempo mehrmals zu Fuß bzw. auf seinem Fahrrad durch Hamburg düsen. Er befand sich tatsächlich, diesmal als tschechischer Bürger im freien deutschen Westen, wieder einmal auf der Flucht. Laut Plan sollte es mit der Bahn nach Paderborn gehen. Also wurde erst einmal ein leerer Koffer im Hauptbahnhof deponiert. Dann ging es freilich auf´s Ganze: Auf dem Schiff befanden sich noch das Fahrrad und der Seesack. Die Dunkelheit im Hafen konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass gerade Ebbe war. Dadurch erwies sich nämlich die zu überwindende glitschige Kaimauer als wahres Hindernis, zumal, wenn man der Reihe nach schwimmend ein Fahrrad und einen Seesack auf dem Rücken trug. Na prima, als sich alles beisammen und auf dem Bahnhof befand, war der Zug nach Paderborn weg. Die Zeit bis zum nächsten um 5.00 Uhr wurde in der panischen Angst verbracht, dass die deutsche Polizei im Auftrag des tschechischen Inspektors doch noch eingreifen könnte. (Klar, die Eltern bekamen in Tschechien später viel Ärger mit den dortigen Beamten.) Dann endlich empfing den gehetzten Konrad sein Bruder ... mit offenen Armen: „Konrad, da bist Du ja!

In Freiheit? Nein, man war schließlich noch Tscheche. Also auf zum Kampf um die erneute deutsche Staatsbürgerschaft! Man hatte ja immerhin den Bruder als eidesstattlichen Zeugen. Es war trotzdem ein Glücksfall, dass Konrad, der zwischendurch Marienbader, ausgerechnet in der Behörde auf einen Beamten traf, den die Tschechen jüngst aus Karlsbad vertrieben hatten. So ein Kuddelmuddel! Doch genau wegen der Erinnerung an die geliebte Heimat landete der Stempel des „Deutschen im Ausland“ relativ unkompliziert auf Konrad´s Papieren. Die feinen Unterschiede des Deutschtums verwirrten selbstverständlich damals viele Bürger, vor allem solche, die Entscheidungen zu treffen hatten, zumal ausländische Behörden stets mit mischten. Auf diese Weise lernte Konrad zudem bald vier elende Durchgangslager kennen: Warburg, Uelzen, Hannover, Friedland. Am grässlichsten blieb das Lager Friedland mit seinen Wellblech-Baracken voller Menschen der verschiedensten Nationen in seiner Erinnerung...

Dem Wunsch auf Zuzugsgenehmigung zum Bruder nach Paderborn wurde schließlich doch durch eine zuständige Länderkommission entsprochen. Obendrein gab es 20,- DM Übergangsgeld und Kleidung beim Roten Kreuz. Doch nun sollte Konrad erst einmal erneut in das Durchgangslager Warburg. (Bei Vertriebenen kursierte für so etwas der ehrenvolle Begriff „Entlausungslager“.) Auch setzte sich der Papierkrieg fort, so dass Konrad einstweilen noch in mehreren Ämtern herum irrte. Dort konnte das „Glückskind“ allerdings irgendwo an richtiger Stelle den Satz „Ich will nicht mehr ins Lager!“ platzieren. Unglaublich, zur Belohnung bekam er doch dafür tatsächlich als endgültigem Befreiungsschlag die begehrte „Registriernummer“. Was auch immer dies bedeutete, Konrad spürte ab sofort den Atem der Freiheit. Also stopfte er sich die „Aktentasche voller frischer Semmeln“ - wie es sich für einen einstigen Bäcker-Lehrling gehört - und machte sich erneut auf zum Bruder. 

Mit Holz hacken und anderen Notwendigkeiten wurde in Paderborn eine Übergangszeit verbracht, denn nun hatte man zum Arbeitsamt zu gehen. Konrad wusste, was er wollte: Binnenschifffahrt! Mit dem Hinweis des damals keinesfalls überforderten Arbeitsvermittlers, dass „bei Paderborn kein Schiff vorbei fährt“, war es natürlich nicht getan. Nein, die Entscheidung brachte die prompte Antwort auf ein Bewerbungsschreiben an die Hafenverwaltung Duisburg. „Sofort kommen!“ hieß es im Telegramm. Die Strecke von Paderborn nach Duisburg, die Konrad spontan im Eiltempo durchfurchte, ist ihm nicht mehr in Erinnerung. Selbst in der Fachvermittlungsstelle für Binnenschifffahrt zu Duisburg kam er kaum zum Atemzug, denn der Schiffer und spätere „Onkel“ Krämer wartete bereits auf seinen neuen Mitarbeiter. In bester Erinnerung blieb übrigens auch „Tante Marta(Krämer)“, die „so dick war, dass sie kaum durch die Luke kam“. In dieser fast familiären Umgebung verbrachte der fleißige Konrad nahezu ein halbes Jahr, während nun die Wässer von Rhein und Ruhr nur so unter ihm dahin flossen.

Wie es Konrad´scher Zufall so will, besuchte er zwischendurch die Tante und den Onkel in Hagen/Westphalen: „Ach, Du bist es!“. (Man muss wissen, dass die Fleger´s als genetische Nachfolger der Hussinetz-Gründer Nikolaus und Maria Fleger zum Jahr 1934 mit ganzen 18 (!) Familien außerordentlich zahlreich in Stadt und Landkreis Strehlen vertreten waren.) Abgesehen davon, dass ihn bei dieser Gelegenheit erstmals moderne Technik beeindruckte - ein elektrischer Türöffner narrte ihn - kam es in des Onkels Wohnung zu jener folgenschweren Begegnung, die dann Konrad´s Welt bis auf den Grund veränderte. Ein tief in der Realität eines florierenden westfälischen Bauunternehmens verankerter Onkel entfachte folgenden Gedankenaustausch: „Wie ist Dein Monatsverdienst?“ - „189,26“ - „Bei uns verdienst Du viel mehr!“ Konrad solle doch zum Bauarbeiter umschulen! 

Die Verlockung war tatsächlich groß, und der Angesprochene erlag ihr, so dass es sogar noch tatsächlich zur … Grundberührung kam. Kapitän Krämer, dessen Kahn gerade in Dortmund mit Kohle beladen wurde, erteilte nämlich murrend seine Zustimmung zur Kündigung nur unter einer Bedingung: Sein schier unersetzlicher Mitarbeiter müsse zumindest noch die Kohlefahrt nach Westberlin mit absolvieren. (Tante Marta war untröstlich und wurde ab sofort noch dicker: Kummerspeck!) So ergab es sich, dass Konrad sogar einen bedeutenden Beitrag zur Rettung der Frontstadt im aufkeimenden Kalten Krieg leisten konnte. Ihm war das aber zu wenig, vielmehr wollte er noch einen Zusammenhang mit der verlorenen schlesischen Heimat herstellen. In seinem lexikalischen Gedächtnis haftete noch die Adresse (Berliner Str. 22a) der Schulfreundin Prohaska, die einst in der Zwölfhäuser-Reihe von Hussinetz wohnte und dann noch in schlesisch-deutschen Zeiten nach Berlin umgezogen war. Also machte er sich auf den Weg, um die Erinnerungen - Wirklich nur diese? - zu aktualisieren. Nun, er fand wohl die Berliner Str. 22, doch die 22a war einfach nicht auszumachen. Im Frust stürzte er sich in der gegenüber der 22 liegenden Kneipe „Zum blauen Engel“ mit den letzten Pfennigen auf eine Tasse Nudelsuppe. Es war aber kein gewöhnlicher, sondern Vatertag. Draußen fuhr ein Lkw vor, Stimmung, Ziehharmonika, Strohhüte, und mitten im Getümmel hieß es plötzlich, die 22a sei doch nur um die Ecke. Die Erinnerung, die jetzt Runke hieß, fand verwirrt im ersten Augenblick nur die inzwischen bekannten Worte: „Konrad, Du bist´s?“ Ach ja, er war´s! Überwältigt vom gemeinsamen Erinnerungsgut nahm sie ihn dann leichtfertig mit in die Wohnung. Hier geriet der anwesende Ehemann allerdings mit Recht in arge Schwierigkeiten ob der vermeintlichen - Oder tatsächlichen? -Konkurrenz. (Wir wissen ja nicht, mit welchen wirklichen Absichten der Überraschungsbesuch stattfand.) Jedenfalls habe der Herr Runke ein bedrohlich ganz langes Gesicht bekommen, meinte Konrad mit Rückblick auf diesen (amourösen?) Coup. 

Kapitän Krämer plagten derweilen ganz andere Sorgen. „Die Russen machen die Grenze dicht!“, brüllte er dem Ausflügler panisch entgegen als dieser wieder das Deck betrat. Was, schon wieder Flucht vor den Russen? Ach was, es war ohnehin die letzte Gelegenheit für Konrad gewesen, seinem Kindertraum treu zu bleiben. Die Liebe und die anstrengende Binnenschifffahrt würde er ohnehin in Dortmund gnadenlos an den Nagel hängen. Freilich, zunächst lautete nur der Kurs dorthin, denn irgendwo im Mittelland-Kanal kam es zu jener Grundberührung. „Willi, Willi, wir saufen ab!“, kreischte die in der Luke hängende Tante Marta. Und es drang wirklich Wasser ein! Die sofort initiierte Jauche-Pumpe konnte nichts ausrichten, denn dem schrottreifen Teil fehlten funktionierende Dichtungen. Zudem war das Leck nicht auszumachen. „Scheiß Schiffahrt!“ mag der geläuterte Konrad gedacht haben als er im sinkenden Schiff seine Schlafkoje (!) aufsuchte. Doch siehe da, ein Rinnsal suchte sich ausgerechnet von dort seinen Weg zwischen die Planken. Der herbei gerufene „Alte“ unterschätzte die davon ausgehende Gefahr allerdings vollkommen: „Das kann´s nicht sein!“, hieß dessen fatale Diagnose. Er bestellte lieber einen Bagger, der im Verein mit der auf´s Äußerste entfesselten Schiffsmaschine den Befreiungsschlag dann doch in letzter Sekunde vollbrachte. In einer nahen Werft stellte sich allerdings das Kojen-Leck als die wahre Ursache des Wassereinbruchs heraus. Man betonierte an dieser Stelle eine Speckschwarte ein, und weiter ging es - mit Erz im Schiffsbauch - nach Westen, vorbei an den zerstörten Reichswerken „Hermann Göring“, entlang von aufblühenden Landschaften, hin zum Endziel aller Konrad´schen Schifferträume: Ab sofort waren nämlich Hochöfen zu bauen! Ja, Konrad wurde in der Tat Bauarbeiter. Die schweren Schamotte-Steine forderten zwar den ganzen Mann, aber dafür stimmte am Monatsende die Kasse. Nun wurde endlich „schönes Geld“ verdient. Ein Fritz Sidka aus dem heimatlichen Eichwald, der längst als fleißiger schlesischer Polier das NRW-Bauwesen mit auf Vordermann gebracht hatte, überzeugte Konrad sogar, die Gesellenprüfung nachzuholen. So ward nun endlich aus dem Schiffer ein echt bodenständiger Bundesbürger.

Just in diesem Augenblick - „Verweile doch!“ - küsste ihn erst einmal die Muse. Er wurde Mitglied im Gesangsverein, wo ihn sogar eine Karriere als Tenor erwartete. Als solcher drang er natürlich unweigerlich in eine der  Phantasiedomänen der Frauen ein: Frauen schwärmen immer von Tenören! Allerdings, sie, die Frauen, spielten bekanntlich in Konrad´s bisherigem Leben, bis auf eine Ausnahme, kaum eine Rolle. Nun ist das Vereinsleben immer dazu angetan, dass man wertvolle Kontakte knüpft. Insofern - und überhaupt war die Erinnerung an die Heimat längst wieder fällig - kam das Schlesiertreffen des Jahres 1954, das im nahen Frankfurt am Main stattfand, gerade zum rechten Zeitpunkt. Der geplante Chorauftritt verhedderte sich zwar in menschlichen Unzulänglichkeiten - ein singender Stotterer fand nicht zu sich und Krankheit dezimierte die Sängerschar - doch kam es zu manchem Wiedersehen, sogar mit vertriebenen Verwandten. Und wieder tönte es: „Der Konrad ist da!“. Ja, der Westen war ihrer aller neue Heimat geworden ... und man tauchte gemeinsam tief in die schlesische Erinnerung ein. 

Plötzlich ertönte jener elektrisierender Satz: „Wir hätten eine Frau für Dich!“ Obgleich Konrad erst mal nach Luft rang - und an Flucht war diesmal nicht zu denken - dies war genau das Richtige zum richtigen Zeitpunkt. Ja, wie ein richtiger Engel kam sie über ihn. Denn sie hieß Gertrud, war tatsächlich eine geborene Engel aus dem Sauerland und sie stellte sich „wirklich als Frau für mehr“ heraus, wie Konrad auch noch nach einem guten halben Jahrhundert der Gemeinsamkeit voller Humor zu bemerken weiß. Wenigstens in diesem Punkt musste Konrad niemals Fluchtgedanken hegen.