In der Zeitschrift Sächsische Heimatblätter, H. 3 (2003) s. 279, erschien von J. Uhlig, Chemnitz, folgende

Rezension zum Buch „Die Schatzkammern von Chemnitz - Nur eine Saga der uralten Stadt? von H.-D. Langer, Niederwiesa

In den Regionen, wo sich einst der Miriquidi-Urwald und sein Vorland ausdehnten, gibt es viele Standorte unterirdischer, vom Menschen geschaffener Hohlraumsysteme, die nicht auf den Bergbau zurückgehen. Zudem fällt ein ca. 50 km breiter SO-NW-Streifen im sächsischen Raum etwa mit Chemnitz/Zwickau-Merseburg/Memleben als Schwerpunktlinie auf. Die Fachwissenschaft bestand bisher auf einer naheliegenden Erklärung: Bierkeller seitdem das untergärige Bier zu Beginn des 16. Jahrhunderts hier aufkam. Das seit Weihnachten 2002 vorliegende Fachbuch „Die Schatzkammern von Chemnitz“ stellt diese „Bierthese“ anhand umfangreicher historischer und archäologischer Recherchen und mit mehreren 100 Bestandsfotos ernsthaft in Frage.

Akribisch bedient sich der Autor der Tatsache, dass eine heutige Großstadt besonders tiefe Wurzeln in der Vergangenheit und damit einen angemessen weit zurückreichenden historischen Fundus besitzt. So entstand u.a. eine interessante Chemnitzer „Urchronik“, die der sogenannten Besiedlung im 12. Jahrhundert vorgelagert ist und vielleicht der Ermisch´schen „Dorfschaft Caminizi“, die nach diesem Historiker schon zur Zeit der berühmten Klostergründung (um 1143) Bestand hatte, möglicherweise neue Dimensionen verleiht.

Noch aufschlussreicher ist jedoch die exakte Recherche der ältesten Geschoss- und Bergbücher der Stadt, die den Nachweis von „Saltzkammern“ und „Alten Bierkellern“ im Kaßberg schon für das 15. Jhd. erbrachte, also lange vor dem Zeitraum der Bierthese. Man muss sich daher mit dem Autor wundern, wie leichtfertig bisher mit dem entsprechenden Schriftgut und Bestand umgegangen worden ist. Doch nicht nur damit wurde die Bierthese vom Ursprung der unterirdischen Gänge gekippt, sondern auch anhand vergleichender Studien zu anderen Städten, z.B. Glauchau, Meißen, Merseburg, und vor allem durch gezielte bauarchäologische Untersuchungen in aktuellen Chemnitzer Großbaustellen sowie im umfangreichen, mehr oder weniger zugänglichen Hohlraumbestand der Innenstadt. Niemals wurde bisher dessen für vermeintliche Bierkeller höchst rätselhafte Architektur so umfassend und kritisch analysiert.
Originell und hilfreich erwies sich die Erstellung des „ältesten Stadtplanes von Chemnitz“ (bisher der Oeder´sche Umgebungsplan von 1600) mit historischen Mitteln, indem der Autor die im Jahr 1494 vom Steuereinnehmer im Geschoßbuch verzeichneten 41 urbanen Stationen - insgesamt ca. 800 Steuerzahler - mit dem bekannten Trenckmann´schen Grundriß von 1761 zur Deckung brachte. Überraschend ergaben sich nämlich jeweils zwei vom Roten Turm ausgehende halbjährige Umläufe, und zwar eine innere wohngeschäftliche Spirale mit dem Rathaus als Endstation und eine komplett außerhalb der Stadtmauer absolvierte gewerbliche Stationenfolge. Dadurch gelang u.a. eine eindeutige bergseitige Platzierung der „Saltzkammern“ als einer Station von 6 angesehenen Steuerzahlern, die u.a. auch als Pächter an der Station „am Caßperge“ bzw. später „Keller“ der Jahre 1494 bis 1540 vorkamen. Dort und nur dort - so argumentiert der Autor - begann in Übereinstimmung mit bisherigen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen die Anlegung der zur Abgrenzung von ihm so bezeichneten „Neuen Bierkeller“ der Bierthese. Es bestanden jedoch bereits lange vorher „Alte Bierkeller“, die man offenbar lediglich überformt, d.h., vielleicht nur in ihren Querschnitten vergrößert hat. Es fehlen ganz einfach die sonst unvermeidlich hohen Ausgabeposten in den sorgfältig geführten einschlägigen Ratsakten.


 

Faszinierend ist es schon, wenn man bauarchäologisch im Bestand an den historisch erkundeten Orten ausgemauerte (Salzkammern) bzw. in den Felsen gehauene Strecken (Bierkeller) vorfindet, die mit ihren kunstvollen unterirdischen Porphyrtuff-Portalen an jene glanzvolle Zeit vor mehr als 500 Jahren erinnern. Sollte Chemnitz mit den Salzkammern doch noch nahezu vollständig erhaltene Bausubstanz der Renaissance besitzen?

So wird die Bierthese ganz von ungefähr in die ihr zustehenden realen Schranken gewiesen. Zugleich ist auch in Chemnitz der Blick frei auf die unterirdischen Hohlräume des 15./14. Jahrhunderts, und die dendrochronologische Zeitbestimmung auf das Jahr 1390 für ein im berühmten Felsengang unter dem Theaterplatz gefundenes Ausbauholz gewinnt völlig neue Bedeutung. Die Forschung kann von vorn beginnen!


Was war eigentlich die ursprüngliche Bestimmung der unterirdischen Gangsysteme, für die der Autor in der Chemnitzer Innenstadt eine abgeschätzte Gesamtlänge von ca. 10 km angibt? Nun, er bleibt uns eine mögliche Antwort nicht schuldig. In seinem Modell wird das Szenario eines kolossalen Angriffsbauwerkes aus längst vergangenen Zeiten entwickelt: Die „unterirdische Falle“ im Miriquidi-Urwald von König Heinrich I. im Überlebenskampf des fränkisch-sächsischen Reiches gegen die Ungarn, dem schrecklichsten Feind Europas im 10. Jahrhundert. Die Schlacht von „Riade“ lässt grüßen!

So stellen sich für die unwahrscheinlich zahlreichen historischen Hohlraumsysteme und ihre merkwürdigen Standorte im sächsischen Raum insbesondere im Bereich der „magischen Linie“, die von Budapest über Prag und Chemnitz nach Merseburg/Memleben führt, ganz neue Fragen. Auch die Dreidimensionalität der Gangnetzwerke, die Kriechgänge (die der Autor in überzeugender Forschungsarbeit u.a. auch in den Chemnitzer Großbaustellen nachwies) und die Suche nach dem für die Historiker verschollenen „System der Heinrichsburgen“ machen wieder einen Sinn.

Der Autor beschreibt somit eingehend die möglicherweise über 1.000jährige Nutzung und Umnutzung der Hohlräume in Chemnitz, für die er zudem als größte Leistung in der Moderne den Schutz von 10.000 Bürgern beim Untergang der Stadt am 5./6. März 1945 erstmals in der Literatur detailliert würdigt. Mit Recht geht er auch auf die jüngste, selbst erlebte Geschichte ein, denn am 15. Januar 1999 eröffnete er persönlich mit anderen „Heinzelmännchen“ die „Unterirdischen Gewölbegänge im Kaßberg zu Chemnitz“, die seither von Zehntausenden besichtigt wurden und eine touristische Attraktion der Stadt geworden sind.

Ironisch und gesellschaftskritisch zugleich tritt einem das Gesamtwerk entgegen, und geradezu märchenhaft winden sich die alten Sagen, die mysteriösen Legenden und die wiederbelebten Fabelwesen hindurch, die bereits dem Gelehrten und Bürgermeister Georgius Agricola zu schaffen machten. So wurde ein Buch zugleich zum neuen Denkanstoß für den Fachmann, zur dumpfen Erinnerung für viele Chemnitzer Senioren an den Luftkrieg und zum Lesebuch für Kinder und deren Eltern, die sich für die Geschichts- und Naturschätze ihrer Stadt interessieren und engagieren möchten.

Der Autor geht nämlich nicht nur auf die künstlichen Hohlräume und ihren wechselvollen Inhalt ein - so wird daran erinnert, dass sie das Ministerium für Staatssicherheit der DDR sogar zu atomsicheren Bunkern umfunktionieren wollte und bereits als „Schießkeller“ nutzte - sondern erinnert auch an die von der Natur geschaffenen, die sich später in wundersamer und nützlicher Weise mit Schätzen gefüllt haben. Es werden der alte Silberschatz von Chemnitz gesucht und das „trenck brünlein“, der „Goldborn“, der „Blauborn“ - und wie die wunderbaren Quellen und Röhrwässer so alle hießen - werden wieder quicklebendig. Selbst der Beutenberg-Vulkan geht noch einmal in die Luft und hinterlässt den Chemnitzern mit dem Bau- und Werkstein Porphyrtuff den größten Bodenschatz ihrer langen Historie. Eine geheimnisvolle Spur führt schließlich den Leser am „größten Bernsteinnebenzimmer der Welt“ vorbei direkt in die wunderbare Gegenwart der Makkaroni- und Excentriques-Tropfsteine im Kaßberg.

Jürgen Uhlig