Die Tragödie und der Segen des Paul Hanusch und die historische Hussinetzer Hochzeit
(siehe auch www.hussinetz.de)
von Dr. Hans-Dieter Langer, Niederwiesa
Vorwort:
Dies ist ein Auszug aus einem in Arbeit befindlichen Buch des Autors über seine Familie und den Geburtsort Husynec/Hussinetz/Friedrichstein/Gesiniec in Schlesien. In der Bearbeitung für das Strehlener Heimatblatt wurde zwar die Ich-Form belassen, doch auf die zahlreichen Literaturangaben verzichtet. Es sind zudem hier nur einige wenige Bilder verwendet worden. Mit diesem Beitrag soll unterhaltsam ein Stück Hussinetzer Geschichte lebendig werden.
Die hohe Kindersterblichkeit in der evangelisch-reformierten Parochie Hussinetz
Fast jede Familie - übrigens nicht nur in den böhmischen Dörfern bei Strehlen/Schlesien - wünschte sich eine große Kinderschar, denn die Sterblichkeit war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts überall sehr, sehr groß, und eben insbesondere die der Kinder. Nur aus dieser tragischen Perspektive kann man wohl den §3 des Traueredikts Friedrichs des Großen vom 3. Mai 1742 für Niederschlesien überhaupt verstehen, in dem es (unter Strafandrohung von 100 bis 1.000 Reichstalern!) lautete: „Wenn sie aber (die Kinder) unter zwölf Lebensjahren sterben, sollen die Eltern überhaupt keine Trauer anlegen.“
Das Problem des vorzeitigen Dahinscheidens (bzw. der Todgeburt) steigerte sich erwartungsgemäß bei Mehrlingen, die freilich so häufig auch in Hussinetz nicht vorkamen. Allerdings macht gerade ein familiäres Beispiel aus meiner Fleger-Verwandtschaft von sich reden und zudem einiges vom allgemeinen Leben der Hussinetzer Gemeinschaft deutlich. In 3. Generation nach meinem aus Böhmen nach Schlesien emigrierten Urvater mütterlicherseits, Nikolaus Fleger (1710-1777), heiratete am 11. Mai 1890 der Obstpächter, Weber und Hausbesitzer Wilhelm Fleger (1867-1940) seine Karoline, geb. Zucker (1868-1958), und freute sich mit ihr im Laufe der Zeit über sehr viele Geburten. Wir erkennen hier zunächst bei der Aufzählung der väterlichen Berufe die typische Überlebensstrategie der Hussinetzer, die meistens Tätigkeiten in der Landwirtschaft bzw. im Handwerk mit solchen in Heimarbeit kombinierten. Der „Hausbesitzer“ war dagegen nur ein Statussymbol, das ihn vom „Auszügler“ unterschied, wenn damit auch die Besitzverhältnisse zum Ausdruck kamen. Man wechselte lediglich zwischen diesen beiden Positionen, wenn der Vater in die Jahre kam und dem Sohn bzw. Schwiegersohn das Anwesen - später oft durchaus käuflich - übereignete. Man lebte dann als „Inwohner“ einer Zweitwohnung im Dachgeschoss oder im Nebengebäude unter deutlich bescheideneren Verhältnissen. Ein Nachfolger stand allerdings in der Pflicht, seine Alten in vieler Hinsicht zu versorgen. Erfolgte der Eigentumswechsel, wie gesagt, auf der Grundlage eines Kaufvertrages, so wurde dies für die ehemaligen Eigentümer zusehends zumindest eine einmalige Einnahmequelle. Im 18./19. Jahrhundert bedeutete es jedoch eher selten, dass dieser „Hausbesitzer“-Status im wirtschaftlichen Sinne der steten Mieteinnahmen von fremden Untermietern zu verstehen war, was sich jedoch nach 1900 zu deren Gunsten auch in den böhmischen Dörfern bei Strehlen verschob.
Nun wieder zu den Fleger´s: Möglicherweise war die Freude anfangs etwas gedämpft, weil der Kindersegen bereits am 2. März 1888 - also unehelich - mit einer kleinen Emma Karoline begann. Das war mit zwei Jahren eine ungewöhnlich lange Zeitspanne vor der Hochzeit. So reichte es sogar für eine zweite „illegale“ Schwangerschaft, die nun die beiden Tatverdächtigen offenbar endgültig in gesellschaftlichen Heirats-Zugzwang brachte. Karoline und Wilhelm tauschten jedenfalls 1890 in letzter Sekunde die Ringe. Zehn Tage später war es nämlich schon wieder so weit, ein Wilhelm Friedrich kam zur Welt. Beinahe hätten wir also gleich zwei uneheliche Kinder gehabt. Du lieber Himmel, Althussinetz, wo wäre dann deine sorgsam gehütete Pietät abgeblieben? Doch in den Jahren bis 1913 steigerten sich die nunmehr legalen, freudigen Anlässe bei unseren Fleger´s noch, und zweimal Zwillinge standen zudem der Karoline mitten in ihrer großen Nachkommenschaft gut zu Gesicht, die sich zuletzt sogar auf die stattliche Zahl von 16 (!) Geburten aufsummierte. Man musste allerdings zeitgemäß auch 6 Kindes-Todesfälle verkraften, darunter leider auch die aller Zwillinge. Während der stark geforderte Vater dieser Kinderschar schon am 17. Juni 1940 „an Husten“ das zeitliche segnete, fragt man sich besorgt, wie denn der Karoline diese biologische Großtat bekommen sein mag. Nun, sie hat ihren Mann und die Wirren der Hussinetzer Nachkriegszeit noch ganze 18 Jahre überlebt. Und sie kehrte nach dem 2. Weltkrieg mit vielen Gleichgesinnten freiwillig zurück ins „Land ihrer Väter“, wo sie als hoch betagte 90jährige im tschechischen Kynsperk verstarb.
Inzwischen heiratete am 26. Mai 1895 ein weiterer Fleger, indem erneut ein Wilhelm (1872-1956) - jetzt mit einer Anna Maria, geb. Libal (1871-1959) - vor den schlichten Hussinetzer Altartisch trat. Von ihnen beiden wurden in den Jahren 1895 bis 1912 insgesamt 10 Geburten aktenkundig, davon auch einmal Zwillinge. Diese und vier weitere Kinder wurden aber tot geboren bzw. verstarben im ersten Lebensjahr. Es erreichten somit nur vier Geschwister das Erwachsenenalter.
Der erstgeborene Sohn, Friedrich Wilhelm (1895-1952), übernahm dann den genetischen Staffelstab von den Eltern und deren Vorfahren. Seine Frau Maria (1895-1952), geb. Lacina, die er am 18. Februar 1917 heiratete, brachte in der Zeit bis 1938 insgesamt ebenfalls 10 Kinder zur Welt. Darunter waren zunächst auch in Hussinetz äußerst seltene Drillinge, die aber alle - wie übrigens auch zwei weitere Einzelkinder - tot geboren wurden. Nun kam es im Jahr 1925 zur Geburt von Zwillingen, wovon jedoch ein Kind tot zur Welt kam und das zweite bald verstarb. Schließlich meldeten sich im Jahr 1938 noch einmal Drillinge, und von diesen überlebte zunächst wenigstens ein Kind. Aber der kleine Heinz Werner schwächelte von Anfang an. Nach sieben Jahren war auch seine Kraft am Ende, zumal ihm die Entbehrungen der Kriegsjahre offenbar hart zusetzten.
An so einer erschütternden Stelle schaut man natürlich wieder besorgt auch auf das Schicksal dieser Mutter: Aber Maria wirkte zunächst ebenfalls ganz stark. Sie gebar zwar nun keine Kinder mehr, doch an der Seite ihres Friedrich Fleger überstand auch sie die Umsiedlung und den durchaus schwierigen Neuanfang im damaligen Tschechien. Die Trauer um das böse Schicksal der ganzen Familie forderte dann aber wohl doch ihren Tribut: Viel zu zeitig verstarben beide bereits im Jahr 1952.
Das Charakteristische bleibt somit die hohe Kindersterblichkeit. Wir wollen einmal aus meiner familiären Hussinetzer Umgebung ein weiteres, einschlägiges Exempel betrachten, das sich im Vergleich - auch für mich überraschend - leider ebenfalls als typisch für das ganze Dorf der damaligen Zeit erwies. Und zwar sprechen wir das Schicksal der Familie von Paul Hanusch an, um das sich durchaus originelle Ereignisse im Leben der Dorfgemeinschaft ranken, die es sich lohnt, auch einmal ganz allgemein zu hinterfragen.
Paul Hanusch (1681-1768) nannte sich in Böhmen - und anfangs auch noch in Hussinetz - Pawel Hanuß, siehe seine Unterschrift etwa um 1749 im Bild 1.
Bild 1: Eigenhändige Unterschrift des Paul Hanusch (Pawel Hanuß)
Paul wollen wir ihn nennen, denn als solcher firmierte er später gemäß preußischer Staatsbürgerschaft. Er wurde 1681 im ostböhmischen Ceske Rybne geboren. Wie Nikolaus (auch hier die Verdeutschung des böhmischen Mikulas) Fleger gehörte Paul Hanusch zu den Begründern von Hussinetz und ist ebenfalls einer meiner Urväter, was seine Lebensgeschichte zeigen wird. Als untrügliches Zeichen seiner Anwesenheit im Dorf von Anfang an (Gründungsjahr: 1749) können wir die Urkunde vom 26. Dezember 1751 in Bild 2 betrachten.
Bild 2: Vereinbarung zu einer Landaufteilung in Hussinetz aus dem Jahr 1756, den
Siedler Pawel Hanusch betreffend
Darin ging es für ihn um einen Regulierungsvertrag in Bodenangelegenheiten. Damals, bei der Dorfgründung, gehörte er mit 68 Jahren auf jeden Fall zu den Ältesten im Ort, und man wird seine Meinung beim Aufbau von Hussinetz unter jenen schwierigen Bedingungen sicher sehr geschätzt haben. Und das war immerhin noch ganze zwanzig Jahre lang möglich, den Paul starb dort im hohen Alter von 87 Jahren erst am 18. August 1768. Da war Hussinetz im wesentlichen aufgebaut. Man müsste somit annehmen, dass Paul´s Gene auch eine lange Lebensdauer seiner Nachkommen garantieren sollten.
Paul alias Pawel kam nämlich seinerzeit zwar als alter Mann nach Strehlen, doch nicht mit leeren Händen, sondern mit der Hoffnung, dass einst seine zahlreichen Kinder und Kindeskinder sein Lebenswerk fortsetzen würden. Niemand konnte es freilich ahnen, dass ihm dies erst so richtig mit Hilfe meiner anderen Hussinetzer Vorfahren gelingen sollte. Es ist kurios und eben der hohen sonstigen Sterblichkeit zuzuschreiben, denn diese meine Verwandtschaft mit den Hanusch´s ergab sich zudem erst in einem zweiten Anlauf. Darauf kommen wir weiter unten noch zurück, denn wir müssen jetzt erst einmal schauen, wie es seinem Erstgeborenen und eigentlichem Stammhalter erging. Paul brachte nämlich seinerzeit unter anderem den inzwischen 30jährigen Sohn, Jirik I. (1719-1762), über Münsterberg mit nach Hussinetz. (Um der seinerzeit weit verbreiteten Gleichnamigkeit zu begegnen, führen wir die zur Generationen-Unterscheidung übliche Nummerierung mit römischen Zahlen ein.) Jirik I. heiratete am 20. Juni 1751 - also noch mitten in der Aufbauphase des Dorfes - voller Elan seine Marie (1730-1801), geb. Podhaisky. Mit ihr wurde er stolzer Vater von fünf Kindern, doch dann ist er bereits mit 43 Jahren verstorben. Dieses erste Unglück mag Vater Paul noch persönlich mit Fassung überstanden haben, denn gemäß oben genanntem königlichem Edikt durfte er als Mann unter Strafandrohung ohnehin nur maximal ein halbes Jahr lang offiziell trauern.
Nun, der arme Jirik I. ist wohl auf seine Art durch den frühen Tod noch viel größerem Elend ausgewichen. Und das kam so: Es geht zunächst um seine im Jahr 1752 erstgeborene Tochter Maria (1752-1782). Jirik I. erfreute sich bis zuletzt an seinem Glückskind, also immerhin bis zu dessen 10. Lebensjahr. Maria wuchs dann ohne Vater zu einer begehrenswerten, reifen Frau heran und musste von meinem Urvater in zweiter Generation, Jan Fleger I. (1749-1787), vielleicht erst im Handstreich erobert werden. Sie heirateten jedenfalls - was bis dahin für das Dorf höchst ungewöhnlich war - erst in Maria´s 28. Lebensjahr am 11. Mai 1779 in Hussinetz. Pünktlich traf sogleich ihr erstes Kind ein: Wieder ein Jan (1780-1781), und schon in der traditionellen Namensgebung verrät sich der ganze Stolz der Eltern. Aber der kleine Jan II. - in böhmischer Manier wird man ihn wohl kosend Janek oder gar Januschek (zu deutsch Hänschen) genannt haben - verstarb bereits im ersten Lebensjahr. Bei einer nachfolgenden Zwillingsgeburt am 24. Januar 1782 starben dann nicht nur die Babys, sondern auch noch die Mutter, wodurch diese Jirik-Hanusch-Linie endgültig tragisch endete. Und es war also auch mein Jan Fleger I. im Alter von 33 Jahren und nach nur 3jähriger Ehe wieder ganz allein auf der Welt, ein überaus schlimmer und auf Dauer unhaltbarer Zustand für einen Hussinetzer Bauern in Aufbruchstimmung!
Noch böser erging es aber einstweilen der Familie der zweiten Tochter von Jirik Hanusch I., Katerina (1762-1797). Sie heiratete am 21.Januar 1783 in Hussinetz einen Jiri Woytech (1746-1802). Zusammen bekamen sie immerhin 6 Kinder. Das ersehnte erste Baby, obendrein zur großen Freude der Eltern ein Stammhalter und wieder mit dem beliebten tschechischen Namen Jan bedacht (zu deutsch also Hans), starb im Jahr 1785 schon bei der Geburt. Das war aber nur der Anfang einer lang anhaltenden Familienkatastrophe. Die folgenden Kinder Gottlieb (1788), Gottlieb George (1789) und Anna Maria (1792) sind nämlich alle kaum ein Jahr alt geworden. Dann bekamen die geplagten, trotz allem noch immer hoffnungsvollen Eltern im Jahr 1794 ihr zweites Mädchen - sie nannten es beschwörend schon vor der Geburt Anna Maria, also wie ihre so jung verstorbene Schwester - doch dann starb auch dieses kleine Menschlein während der Geburt. Fünf Kinder, und keines überlebte! Nun ruhten natürlich alle Hoffnungen auf George Gottlieb - man spürt auch in der sich wiederholenden Namensgebung das existenzielle Ringen der Eltern - der im Jahr 1796 dann das Hussinetzer Licht der Welt erblickte. Der kleine Sonnenschein, zudem doch wieder ein ersehnter Stammhalter, wuchs tatsächlich heran, doch kaum einjährig, ereilte auch ihn die Sense des unbarmherzigen Todes. Damit waren offenbar auch die Kräfte der inzwischen 35jährigen Mutter am Ende. Katerina I. starb 1797, also ganz kurz danach „an Durchlauf“, wie es in den Kirchenbüchern heißt. Auch ihren Ehemann, Jiri Woytech, traf ein letztes Unglück im besten Mannesalter von 51 Jahren. Er konnte den Untergang seiner Familie wohl nie verschmerzen, wurde melancholisch und unaufmerksam. So ereilte auch ihn das Schicksal, denn „ein Unfall im Schobergrund hinter Nimtsch“ setzte fünf einsame Jahre später auch seinem Leben ein Ende.
Wie man sieht, war unser Jirik Hanusch I. ja nun wirklich glücklos, denn auch seine vierte Tochter, Rosina Alzbeta, überlebte ihr Geburtsjahr 1757 nicht. Was half es ihm, wenn die zwischenzeitlich auch noch geborene Dorotha (1754-1827) - freilich erst nach seinem eigenen Ableben - das Erwachsenenalter erreichte und eine leider auch noch kinderlose Familie mit Waclaw Sowak (1753-1830) in Niederpodiebrad gründete, wo er doch zwar das Leben, aber eben auch das Sterben seines einzigen Sohnes Jirik II., im Jahr 1762 kurz vor seinem eigenen Ende, noch verkraften musste und keines Enkelchens Stimme die furchtbare Traurigkeit übertönte? Der ältere Jirik I. hat es somit nicht geschafft, und man wird annehmen dürfen, dass sein früher Tod in eben jenem Trauerjahr 1762 gerade diesem endgültigen Untergang seiner Namenslinie geschuldet ist.
An diesem tragischen Punkt müssen wir uns freilich der Tatsache besinnen, dass Paul Hanusch´s Manneskraft über seinen Sohn Jirik I. hinaus reichte, denn er blieb ja auf allen drei Stationen seines langen Lebens einschlägig nicht untätig. Den Jirik I. zeugte er mit seiner namentlich unbekannten Ehefrau bereits in Böhmen, also lange vor der Emigration. Dort kamen zudem drei weitere Jungen zur Welt. Zwei überlebten allerdings die hohen Belastungen der Emigration und des äußerst schweren Anfangs in Schlesien nur bis Mitte 1742. Das war dann also schon in Paul´s zweiter Lebensstation Münsterberg, und man muss vermuten, dass eine ansteckende Mangelkrankheit beide dahin gerafft hat. Denn in Münsterberg waren für alle Emigranten sieben Jahre Hunger und Elend angesagt. Somit blieben damals, zudem als echte Böhmen, nur der ältere Jirik I. und der erst 1740 geborene Waclaw übrig. Inzwischen wurde aber Paul´s erster Schlesier geboren: Ein kleiner Jan Jacub kam 1743 in Münsterberg zur Welt. Es nützte diesem aber nicht, dass er noch von dem umstrittenen Prediger Ondrey Macher in dessen kurzer Amtszeit getauft worden ist - seine streng lutherische Orientierung passte dem hussitisch gesinnten Vater ohnehin nicht - die Lebensdauer dieses Sohnes betrug nur wenige Monate.
Auch der echte Tscheche Waclaw wurde freilich nur 36 Jahre alt, denn ein „hitziges Fieber“ raffte ihn bereits am 14. Dezember 1776 hinweg. Er unterstützte bis dahin aber immerhin und besonders intensiv - weil unverheiratet und kinderlos - ganze 27 Jahre lang den Aufbau des Familienanwesens in Hussinetz. Sein trotzdem viel zu zeitiger Tod wird die Familie Paul Hanusch wieder an die tiefen Wunden erinnert haben, die vor allem schon die zeitigen Ableben ihres jeweils erstgeborenen Sohnes bzw. Enkels (die beiden Jirik´s) vor nun schon über 14 Jahren verursachten.
Doch es passierte ja noch zwischendurch etwas sehr Erfreuliches, denn Paul´s Nesthäkchen Katerina II. (1749-1837) - nicht zu verwechseln mit des älteren Jirik´s gleichnamiger Tochter - wurde auf seiner dritten Etappe, d.h., in Hussinetz geboren. Man kann somit feststellen, dass Paul Hanusch auf allen seinen Lebensstationen seine Männlichkeit bewies, um schließlich erst ganz zuletzt überlebensfähigen weiblichen Scharm in die Welt zu setzen. Die schlesische Katerina II. hat es ihm gedankt, indem sie ihrem Vater noch fast 20 Jahre Freude bereitete und dann die zweite Hanusch-Generation bis weit ins 19. Jahrhundert mit in die Zukunft fort trug. Sie begründete nämlich in Hussinetz am 18. Oktober 1768 - also exakt zwei Monate nach ihres Vaters Heimgang - mit Frydrych Duschek (1743-1806) aus Mittel-Podiebrad eine Familie mit sagenhaften 9 Kindern. Da nun wiederum ihr Mann schon im Jahr 1806 das Zeitliche segnete, sorgte sie sich noch volle 31 Jahre lang allein um das Wohl und Wehe ihrer Nachkommen. Selbstverständlich blieb auch sie nicht von weiteren Schicksalsschlägen verschont, denn ihr zahlreicher Nachwuchs erreichte nur in vier Fällen das Erwachsenenalter. Die fünf anderen gingen im zarten Alter von ein bis fünf Jahren von ihr, und ihre erwachsene Tochter Alzbeta (1781-1833) folgte ihnen sicher ebenfalls viel zu zeitig. Dann aber traf es auch Marye (1769-1836), ihre älteste Tochter, die ihr in allen Lebensphasen so hilfreich und verständnisvoll beigestanden hatte. Dass Katerina auch dies noch erleben musste, mag ihre Lebenskraft entscheidend geschwächt haben. Trotzdem, als sie wenig später, nämlich am 24. November 1837, in Mittel-Podiebrad 88jährig „an Bruststechen“ starb, dürfte sie auf dem Sterbebett auf ihr Lebenswerk überaus stolz gewesen sein: Das waren vor allem - neben den Töchtern Alzbeta und Marye - ihre Söhne Matey (1773-1847) und Stephan Carl (1787-1841).
So traurig im Hinblick auf die geringe Überlebensfähigkeit insbesondere der Kinder diese Ereignisse daher kamen und so hoffnungsvoll oft trotzdem noch männliche Nachkommen wenigstens den Stamm gehalten haben, so erfuhren wir zu Paul und seinen unmittelbaren Nachkommen im Grunde genommen nur eine durchschnittliche Familiengeschichte aus unserem Hussinetz und den anderen böhmischen Dörfern rund um Strehlen in der Gründerzeit des 18. Jahrhunderts.
Die eigentliche Entdeckung eines meiner Urväter: Pawel Hanusch
Wir stellen allerdings nun in Katerina Duschek, geb. Hanusch, und ihrem Mann Frydrych bzw. unmittelbarer in ihrem gemeinsamen Sohn Matey Duschek eine neuerliche Kreuzung der Hanusch-Bahn mit der anderer meiner Vorfahren fest. Und das trug sich so zu: Matey schmiedete am 16. November 1794 in Mittel-Podiebrad mit Marya (1772-1860), geb. Poschik, sein Eheglück, aus dem einmal mehr sechs Kinder hervor gingen. Fünf davon, die zwei Mädchen, Anna Maria (1796-1862) und Anna Elisabeth (1801-1878), sowie die Jungen Johann Gottlieb (1798-1870), Matthias Friedrich (1804-1888) und Friedrich Johann (1810-1855), erreichten das Erwachsenenalter. Man findet ihre familiären Lebensräume in Hussinetz sowie in Mittel- und in Niederpodiebrad, was ein Zeichen dafür ist, dass die alte Hussinetzer Dorfgemeinschaft nun allmählich stärker in die Umgegend ausstrahlte. Diesen anhaltenden Trend in Stadt und Landkreis Strehlen kann man gerade an den Namen Duschek und Fleger gut ausmachen, die es dort im Erfassungsjahr 1935 zusammen auf 114 (!) ansässige Familien in mindestens 9 Ortschaften brachten. Sie waren übrigens alle miteinander verwandt, weil sie sämtlich von den Hussinetz-Gründern Tobias Duschek bzw. Nikolaus Fleger abstammten. Nun, Marya Duschek überlebte ihren Mann (gestorben „an Husten“) um 13 Jahre, und dann sogar noch ihren Sohn Friedrich Johann (gestorben „an Krämpfen“) um 5 Jahre, doch hinterließ letzterer eine weitere Familie, die wir nun weiter verfolgen und mit der Hussinetzer Geschichte verbinden wollen.
Friedrich Johann hatte am 23. November 1834, in Mittel-Podiebrad wohnend, die Hussinetzerin Anna Rosina Katscher (1808-1894) geehelicht. Vielleicht mussten sie das tun, denn es ereignete sich vermutlich im Überschwang der Zuneigung erneut ein für die damalige Zeit immer noch bedenklicher Unfall: Das Baby Anna Johanna kam in Hussinetz zwei Jahre zu zeitig, also höchst unehelich zur Welt! Oje, das gab ein Getratsche im Land, und der gute Pfarrer Josef von Tardy - er nahm diese bedeutsamste Hussinetzer Funktion in den langen Jahren 1825 bis 1874 ein - suchte sicher Hände ringend um christliche und weltliche Erklärungen. Letztlich musste Friedrich Johann als Ehemann das Kind nachträglich als das seine anerkennen, was dann wohl - zumindest aus heutiger Sicht - wie ein fruchtbarer familienpolitischer Befreiungsschlag wirkte: In den Jahren 1834 bis 1847 sammelte sich nämlich die stattliche Schar von sechs weiteren Kindern in Mittel-Podiebrad an! Einem davon kam schlussendlich die Schlüsselrolle zur Korrektur der Bahn der inzwischen legendären Hanusch-Mission zu, damit sich jene mit der meiner Fleger-Vorgänger nicht nur kreuzte, sondern dass dabei sogar ein nachhaltiger Volltreffer erzielt werden sollte. Doch dazu bedurfte es freilich noch einmal eines Vermittlers, der sich in Form des Stammhalters der vorgenannten Duschek´s fand: Johann Friedrich (1839-1922).
Johann Friedrich führte nämlich seine Maria Charlotta Lacyna (1841-1916) am 1. November 1863 - Wohin sonst? - ins Hussinetzer Heim. Und woher kam sie? Natürlich auch aus Hussinetz, so dass die alte Ordnung des dörflichen Zusammenhangs wieder voll zur Geltung kam. Aus dem wiederum großen - weil langjährig (1862 bis 1884) und zudem umfänglich entwickelten - siebenzähligen Nachwuchspool ging jetzt endgültig Anna Maria (1869-1946), meine Großmutter mütterlicherseits, hervor, denn sie vermählte sich am 28. November 1897 mit Gustav Albert (1873-1938) aus meiner direkten Fleger-Linie. Auf diese beiden Großeltern kommen wir selbstverständlich noch mal zurück, denn wir wollen mit ihnen Hussinetzer Hochzeit feiern.
Beinahe hätten wir freilich in der Euphorie des Geschehens ein weiteres bedeutsames Ereignis übersehen, das nun wirklich zum Nachdenken zwingt. Schon wieder war ein Baby vorzeitig durchgerutscht: Eine kleine Charlotta Maria trat, was so nicht hätte sein dürfen, mit einem verwunderten Schrei schon im Jahr 1862 - also eigentlich unendlich lange vor der Hochzeit der Eltern - an die Öffentlichkeit. Peinlich, peinlich, lieber Gott (wir erinnern an den Pfarrer) und werte Hanusch´s, Duschek´s, Lacyna´s und vor allem Fleger´s! Ob die daraus folgende gesellschaftliche Schockwelle zur einstweiligen Enthaltsamkeit der Erzeuger für den anschließenden, ungewöhnlich langen Zeitraum von fünf Jahren führte? Wir werden es nie erfahren, doch auch diese Zeitspanne verging, und nachdem dann mal wieder ein Johann Friedrich im Jahr 1867 geboren ward - er starb freilich leider bereits 1876 „an der roten Ruhr“ - wurde im Bett der Duschek´s nachweislich wieder ordentlich und zeitgemäß gearbeitet.
Man schreckte ja damals im bewusst und in Friedrichs des Großen Gnaden abgeschotteten Dorf nicht einmal vor erbbiologisch bedenklichen Abenteuern zurück, denn unsere oben genannte Charlotta Maria Duschek heiratete 1904 in zweiter Ehe, also im fortgeschrittenen Alter von 42 Jahren, den ebenfalls schon ganz schön betagten Traugott Duschek (1860-1933) im Standesamt Göppersdorf, kirchlich zu Steinkirche gehörig, der als „Gasthofbesitzer Landwirt“ aktenkundig geworden und in der Erinnerung geblieben ist, wie noch weiter unten anzumerken sein wird. Vielleicht ist es ganz gut so, dass aus dieser riskanten Duschek-Duschek-Mischung keine überlebensfähigen Kinder hervor gegangen sind. Da sich aber die Duschek- und die Fleger-Sippen nun einmal auf letztlich angenehme Weise sehr viel näher gekommen sind, fanden zahlreiche weitere familiäre Begegnungen statt. Es ereignete sich jenes überaus charakteristische gesellschaftliche Phänomen von Althussinetz, das sogar in der männerlosen Gemeinschaft während und nach dem 2. Weltkrieg noch einmal kurz auflebte: Man traf sich regelmäßig, und zwar vor allem sonntags. Die einst biblisch verordnete und von den bäuerlichen Hussiten sehr ernst genommene Arbeitsruhe an diesem Tag wurde über die Zeiten konsequent eingehalten, sieht man einmal vom Vieh ab, das natürlich zu füttern und auch sonst wie zu versorgen war. Irgendwann, vor allem am Nachmittag, zog jedenfalls seit undenklichen Zeiten beim Hussinetzer Bauern sonntägliche „Ruhe“ ein. Und dann zwitscherten auch schon die Gäste herbei. Was heute Zeitung und Fernsehen tun, das besorgten damals in regelmäßiger Folge die lieben Verwandten bei ihren sonntäglichen Begegnungen. Waren das nicht - gemessen am Verhalten heutiger deutscher Dorfgenossen, die regelmäßig am Sonntag um 14.00 Uhr die Kettensäge zünden, den Benzinrasenmäher anwerfen oder den Bohrhammer betätigen - noch wirkliche Kulturmenschen?
Am Sonntag vor der Hochzeit in Hussinetz
Ein ganz besonderes kulturelles Fleur hatten natürlich die Hochzeiten. Anstatt in der Disco, lernte sich nämlich genau dort und nur dort die Dorfjugend wirklich kennen. So traf Amor´s Pfeil mitten in der Vorbereitungsphase zur Hochzeit meiner Großmutter Anna Maria Fleger (1869-1946), geb. Duschek, ihren Bruder, den im Jahr 1878 geborenen Steinarbeiter Julius Johann Duschek. Wenn das für uns nicht eine willkommene Gelegenheit ist, dem Julius Johann neugierig über die Schulter zu schauen, um zu sehen, was da so an einem Sonntag vor der Hochzeit ablief!
Gar mancher Dorfbewohner war von der Schwere der Arbeit unter der Woche gezeichnet, und man sehnte sich nach der verordneten Pause. So hatte der im Jahr 1864 zu Hussinetz geborene Bauunternehmer Friedrich Wilhelm Moses - der einst als Maurer und Steinarbeiter begann - in diesem Jahr auf eigene Kosten den Granitsteinbruch im Ortsteil Zwölfhäuser erschlossen. Dort wurde nun schon lange bis zum Umfallen geschuftet, und das riesige Granitloch wuchs sichtlich in allen Richtungen. Das empfand die Bevölkerung natürlich nicht als Belastung, denn es bedeutete Verdienst und Brot für viele Menschen aus der ganzen Gegend! Allerdings lief das Geschäft am Ende des 19. Jahrhunderts aus Konkurrenzgründen zum großen Strehlener Steinbruch bald nicht mehr so gut, es wechselten die Besitzer, und um 1930 erfolgte die Stilllegung. Nun wurde der ständige Wassereintritt nicht mehr eingedämmt. Der Zwölfhäuser-Bruch ist im wahrsten Sinne des Wortes ersoffen. So entstand die einzigartige Hussinetzer „Badeanstalt“, in deren kristallklarem, tiefen Wasser nachher ganze Kindergenerationen das Schwimmen gelernt haben, so auch ich. Ich lernte dort zudem als 7jähriger, aus 6 m Höhe mutig vom Felsen ins Wasser zu springen. Deshalb gab es für mich später kein Problem, als angehender Sachse und Zweitklässler meinen Schulkameraden zu zeigen, wie man zum Beispiel in Großschönau mit dem Kopf voran vom 10 m-Turm springt. Keine Frage, das war mit entscheidend dafür, dass aus dem „Polacken“ wieder ein in der Altersgruppe (ich allerdings ein gutes Jahr älter als die damaligen Klassenkameraden) anerkannter Deutscher wurde.
Es war also am letzten sonntäglichen Ruhetag vor der Vermählung (28.11.1897) von Anna Maria aus Hussinetz mit Gustav Albert Fleger (1873-1938) aus Woiselwitz. Die Kälte dampfte im Morgengrauen der aufkommenden Sonne. Nachts hatte sich ein Hauch von Winter auf die Landschaft gelegt. Die zarte Schneedecke war jedoch durchlässig, und der leichte Frost klopfte sogar an den im Gras unsichtbaren Behausungen der Regenwürmer an. Die wurden sofort aktiv, indem sie ihre Außentüren schnell noch öffneten, bevor der raue Besucher alles in undurchdringliche Starre versetzen konnte. Das war zwar für Würmer mit aufwendigen Erdbewegungen verbunden, doch benötigte man in den Röhren der unterirdischen Bauten einstweilen noch Frischluft. Wer weiß, wann eine dickere Schneedecke wieder für den nötigen Luft-, aber auch Wärmestau sorgen würde. Also war die ganze Nacht hindurch von innen zu bohren und zu schieben.
Julius Johann spürte jedenfalls diese charakteristisch aufgeworfenen Erdkrumen, doch ging der Aufschrei der Würmer unter im frostigen Knirschen unter seinen Füssen. Dafür hörte er bereits das Stimmengewirr vieler junger Leute im Inneren des Hochzeitshauses, dessen geschmückte Pforte ihn nun mit einem heftigen Gegenstoß von wohliger Wärme aufnahm. Man traf sich schon in der Frühe, um Kränze zu winden, sich zu necken und miteinander zu scherzen und ... um sich nach einer passenden Jungfer umzusehen, mit der man sich als noch freier Mann anfreunden und die man dann sogar wenigstens auf vier Wochen bei ihren Eltern „ausborgen“ konnte. Manchmal war das echter Probebetrieb, manchmal blieb es bei einer lustigen Episode, denn es gab auch Spielregeln. Wer jedenfalls nicht schnell genug war, wurde gnadenlos auf Zeit „verkuppelt“. Das Prinzip lautete dann „dem ältesten Junggesell die älteste Jungfer“. Da waren Betroffene nicht immer ganz so hell begeistert.
Für Julius Johann bedeuteten bis jetzt solche Ereignisse auf jeden Fall völliges Neuland, um nicht zu sagen dünnes Eis. Er war zwar ein stattlicher und umgänglicher Typ, doch bis dato eher nicht sonderlich feminin gesinnt. Es gelang ihm stets, ähnlichen Gelegenheiten mit Hinweis auf seine Jugend oder sonst was aus dem Weg zu gehen. So konnte er sich voriges Jahr bei einem ähnlichen Anlass noch drücken, doch nun, wo seine Schwester heiratete? Zudem hatte diesmal der Vater mit einer Drohgebärde eingegriffen: Du kriegst mal keine Frau, hieß es! Selbst durch Julius Johann ging da ein Besinnungsruck, denn das war ihm auch bewusst, wer in Hussinetz anerkannt werden wollte, hatte zu heiraten und Kinder, viele Kinder zu bekommen. So trat er nach kurzer Flucht in der morgendlichen Dunkelheit als einer der letzten, aber immerhin, wieder in sein Elternhaus, um an der Vorfeier zur Hochzeit seiner Schwester teilzunehmen. Zur Begrüßung schlug ihm das typische Getöse einer bereits leicht angetrunkenen Schar entgegen. Es roch schon jetzt nach den Geistern von Saffran, Preiselbeer, Pfefferminze und Ingwer, deren Extrakte die Eltern des Hochzeitspaares quasi hektoliterweise das ganze Jahr hindurch nach dem Kochen in besonders großen Töpfen und nach weiterem Zubereiten in zahlreiche Flaschen und „Krucken“ (Krüge) hinein gezaubert hatten. Dazwischen krochen Schwaden, die an das Fleischerhandwerk erinnerten, von dem die meisten Hussinetzer selbstverständlich etwas verstanden: Mittags gab es nämlich Bratwürste, und alles schön fettig, aber auch knackig, bitte schön, wie ich es auch heute noch liebe.
Doch weiß der Himmel wie es kam, der vor Dunst und Scham halb betäubte Julius Johann stolperte plötzlich und geriet - natürlich rein zufällig - in eine weiche Wolke zart-weiblicher Umfassung. Irgendwie spürte er wohl bereits in der raffinierten Art und Weise der Reaktion des Auffangkörpers, dass es um ihn geschehen war. Denn die 20jährige Anna Charlotte Fleger (1878-1903) ließ den vorerst 19 Jahre jungen Duschek-Gegenstand, der ihr da entgegen flog, nicht gleich wieder los. (Sie ließ ihn übrigens nie wieder los, und er ward darob glücklich, bis ans Ende seiner Tage.) Jedenfalls fixierte sich spontan auf beiden Seiten ein Band, das quasi von unendlicher Dauer war. Wir wissen nicht genau, ob es um Liebe auf den ersten Blick ging, doch es gab zweifelsfrei seither anhaltend wechselseitige Beziehungsschwingungen, die ganz bestimmt nicht nur rein esoterisch verstanden worden sind, denn am 26. Dezember 1903 kam es zur erneuten Duschek-Fleger-Vereinigung vor dem schlichten Altar der heimischen Kirche in der Altstadt zu Strehlen.
Folgt man nun der Zeit in dieser 6. Hussinetzer Generation, so wurden von unseren Neuvermählten ganze 10 Kinder gezeugt, so dass es sichtlich zu einem weiteren beachtlichen Ausbreitungsimpuls des Duschek-Namens in der ohnehin schon recht namensarmen Hussinetzer Region kam. Wie wir oben erwähnten und man später noch sehen wird, schlug der Fleger-Clan zurück, und so schaukelten sich die Duschek- und die Fleger-Populationen dahin gehend noch gegenseitig so auf, dass sie - wie gesagt - rund um Strehlen in vielen Ortschaften angesiedelt waren, und die Fleger´s mit 19x (anteilsmäßig also 11 %) noch vor den Duschek´s mit 18x in Hussinetz unter allen 170 Namen am häufigsten vorkamen. Bei ca. 30.000 Namen in den Kirchenbüchern der gesamten Parochie Hussinetz ist Duschek (909x) allerdings der mit Abstand häufigste (Fleger „nur“ 228x), und man erkennt im Stadt- und Landkreis-Adressbuch zu 1935, dass die Duschek-Sippe außer in Hussinetz (ca. 10 %) noch in Strehlen mit immerhin rund 1 %, in Töppendorf mit etwa 5 % und in den drei Podiebrad-Dörfern zusammen mit fast 6 % der jeweiligen Gesamtbevölkerung weitere herausragende Lebensmittelpunkte ausgebaut hatte.
Was die zaghaft beginnende Umverteilung der Hussinetzer in der näheren Umgebung ihres Heimatdorfes betrifft, so war übrigens auch die oben genannte Charlotta Maria (die nicht hätte sein sollen) ein wenig beteiligt, denn sie heiratete ja am 10. Juni 1894 in Strehlen in erster Ehe den Johann Gottlieb Moses (1853-1900) aus Nieder-Podiebrad, der mit ihr dann nach Eichwald übersiedelte, wo man gemeinsam für so manches Glückshormon der Einwohner und Wanderer sorgte, denn das Kirchenbuch verzeichnet zu Johann Gottlieb vielversprechend „Gasthausbesitzer Kretschambesitzer Stellenbesitzer Gastwirth“. Richtig, man war zunächst Eigentümer und Betreiber der weithin bekannten Gastwirtschaft, die einst das Forsthaus war und daher auch als ein Tor zum ebenso romantischen wie mysteriösen Eichenwald der Strehlener Berge galt. Das eigene Eheglück währte aber nur kurz, denn Johann Gottlieb verstarb bereits im Jahr 1900 an „Schwindsucht“. Charlotta Maria hielt den Betrieb aber aufrecht, um schließlich 1904 den blutsverwandten Traugott Duschek zu heiraten. So kam es, dass das „Gasthaus zur grünen Eiche“ zu Eichwald bei den Vertriebenen eher als das des Traugott Duschek in die Analen einging, denn dieser umtriebige Mann „regierte“ hier bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, wie wir weiter oben gesehen haben. Zum mutigen Aufbruch der Böhmen in die preußische Fremde müssen wir freilich einschränkend feststellen: Alle oben genannten Dörfer gehörten ja trotzdem ganz oder weitgehend zur Hussinetzer Parochie, so dass es vorerst nicht allzu abenteuerlich war, wenn sich einzelne Kirchenmitglieder umsiedelten. Umgekehrt freilich, hatte einer den dörflichen Anwesen wirklich und endgültig den Rücken zugekehrt, so mussten er und seine Verwandten in den Dörfern bei seinen seltenen Besuchen darunter leiden. Ein Fleger-Onkel von mir lebte zum Beispiel in der Hauptstadt Berlin. Wenn dessen modern gekleidete und eingestellte Familie - die Ehefrau war Modistin - ein paar Tage in Hussinetz weilte, um uns zu besuchen, wurde im Dorf ohne Ende getuschelt und getratscht, und meine Mutter schämte sich bzw. musste sogar weinen. Die sprichwörtliche Hussinetzer Gemeinschaft hatte wohl doch inzwischen gesellschaftlichen Rost angesetzt.
Bild 3: Das „Gasthaus zur grünen Eiche“ in Eichwald auf einer Postkarte (Wer mag
sich wohl auf diesem Foto verewigt haben???)
Die eigentliche Hochzeitsfeier in Hussinetz
Auch die Hochzeit fand also stets an einem Sonntag statt, aber diese, der wir uns nun zuwenden wollen, eben eine Woche später. Nun war die Stunde meiner Großeltern mütterlicherseits gekommen. Jener für Ende November vorzeitige Wintereinbruch hatte inzwischen alles endgültig in ein Schneeparadies verwandelt. Statt der Wagen mussten Schlitten herhalten, was jedoch maßgeblich die Stimmung auf den Höhepunkt trieb. Jeder geladene Junggeselle hatte ja zunächst seine Jungfer abzuholen, und so mancher verzichtete auf den Paradeschlitten (oder konnte keinen auftreiben) und hängte dem obligatorischen Pferd einen kleinen Sportschlitten an. Da wurde es so wunderbar eng, manchmal kippte das schmale Gefährt, und man kam sich im Schnee noch näher. Auch konnte man mehrere Schlitten aneinander hängen, so dass schon mal eine überzogene Slalomfahrt um Bäume ganze Knäuel von kreischenden Mädchen und gestikulierenden Kutschern im Schneegestöber erzeugen konnte.
Dann aber, ganz plötzlich, kam stille Ordnung in die Gesellschaft. Man steuerte zur Wohnung des Bräutigams, um ihn zum Hochzeitshaus zu Kaffee und Kuchen abzuholen. Hier empfing sie der Brautdiener, nach dessen Einteilung man zu Tische saß und das Angebot - Streusel- und Mohnkuchen durften selbstverständlich nicht fehlen - genoss. Dann holte sich der Brautdiener das Brautpaar und dessen Eltern, um sich zur Rede seitwärts aufzustellen. Man habe sich auf Verlangen der beiden Heiratswilligen versammelt, um sich gemeinsam zur Eheschließung vor dem Altar in die Kirche zu begeben. Gott habe schließlich ein gewichtiges Wort mit zu reden, auch müsse das Vorhaben gesegnet werden, hieß es. Alle waren bereit, aufzustehen und sich zur Marien-Kirche zu begeben. Doch das Ritual durfte nicht an den Eltern vorbei gehen, vielmehr mussten die Brautleute zunächst wechselseitig ihren Eltern danken, dass sie sie seit der Kindheit bis hierher gebracht hatten, und schließlich den Schwiegereltern Dank sagen für die vorbehaltlose Überlassung ihres lieben Nachkommen. Auch diese hatte man um freundliche Aufnahme in ihrem Kreis zu bitten. Wie zur Beeidigung dieser wichtigen Anliegen und deren Anerkennung stimmte dann die Gesellschaft ein starkes (früher stets böhmisches) Lied an, bevor man zum Gotteshaus aufbrach.
Bild 4: Böhmisches Gesangbuch der Hussinetzer Kirchengemeinde aus dem Jahr 1850
(KNIHA Zalmu y Pisni = Buch der Psalmen und Lieder)
Bei Anna Maria und Gustav Albert war es im Jahr 1897 zwar nicht mehr so - für sie standen gemäß inzwischen übernommener deutscher Kultur vor dem Altartisch sogar Sessel bereit - doch noch vor einem halben Jahrhundert kam es im Kirchenraum zunächst zur Polarisierung nach böhmischer Tradition: Die linken vorderen Bankreihen waren für die Junggesellen und den Bräutigam reserviert, während rechts vorn die Jungfrauen mit der Braut Platz zu nehmen hatten. Die durchweg schwarzen Festgewänder hätten heutzutage jeden Grufti verzückt. Erst ein Wink des Pfarrers öffnete die ersehnte Pforte zum gemeinsamen siebenten Himmel, und es gab schließlich jenen neuen, hoffnungsvollen Eintrag im Kirchenbuch, früher auch das in altböhmischen Lettern.
Eine weitere Hürde türmte sich dann am Hochzeitshaus auf, denn es war verschlossen. Erst nach geraumer Zeit gelang dem mit listigen Versprechungen und überzeugenden Wünschen - zum Beispiel: Wir brauchen ein Bett! - um Einlass bettelnden Paar der Zutritt. Die Gesellschaft schlüpfte mit Getöse hinein, löschte den ersten Durst ... und vollzog geschlossen einen kompletten textilen Fassadenwechsel. Erst jetzt kamen Farben ins Spiel. Bunte Hemdsärmel, weiße Schürzchen, geblümte Schultertücher traten zum Vorschein, und die vor einer Woche hergestellten Kränzchen auf den Köpfen der Braut und ihrer jugendlichen Begleiterinnen verbreiteten einen regelrechten, (nicht immer) noch jungfräulichen Heiligenschein. Nach dem Tischgebet des Brautdieners stürzte sich dann alles im ersten Gang, eigenhändig (!) schöpfend, auf in Schüsseln bereit gestellte … Nudelsuppe mit Rindfleisch.
Es gab früher auf Hussinetzer Hochzeiten, wie in der Kirche, keine Musikanten, aber bald beteiligten sich alle an fröhlichen Gesängen, wobei sich nun endgültig böhmisches mit neuerdings deutschem Repertoire mischte. Sogar vor dem Haus wurde gesungen, denn da hatten sich viele Menschen versammelt, die dem jungen Paar huldigen und vor allem ein bisschen von den dargereichten Speisen und Getränken abbekommen wollten. Es ging da draußen gewiss nicht üppig zu, aber jeder bekam etwas, während sich drinnen der zweite Gang in Form von Schweinebraten auf den Tischen türmte. Wieder versorgte sich jeder mit Brot und Sauerkraut selbst. Wer nicht trinkfest war oder nicht aufgepasst hatte, kam zudem jetzt schon in die Problemzone. Dabei war das genau im falschen Augenblick, denn nun wurde wie im Theater beim Brautpaar Revue passiert. Da schonte man keine Wunde, und wo die Unschuld sogar beweisbar gewesen wäre, wurde mit blühender Phantasie derb und gnadenlos aufgetragen. Dazwischen ging der Rundgesang um: „Lebe, liebe, trink und schwärme ...“, und das genau bis Mitternacht!
Nach einer letzten, aufmunternden Bratwurst kamen jetzt endlich die Geschenke auf den Tisch. Also, an eine heimliche Flucht des Brautpaares war nicht im Geringsten zu denken. Ob es Anna und Gustav allenfalls trotzdem zwischendurch gelungen war, der Gesellschaft auf den mit Heu ausgelegten Dachboden zu entkommen - wo den Rest der Nacht traditionell das unverheiratete Jungvolk zu verbringen pflegte - ist nicht verbürgt. Jedenfalls galt es als Pflicht, die Geschenke entgegen zu nehmen, die da im Niveau - streng geregelt nach Herkunft bzw. Verwandtschaftsgrad des Gebers - zwischen Wanduhren und Kohlenkästen, zwischen Bettwäsche und Kochtöpfen oder zwischen Kleiderbürsten und Schuhanziehern lagen. Im neuen Haushalt durfte allerdings eines nicht fehlen: Die Bibel, und die schenkte zum Schluss eine der Großmütter. Erst danach wurde zur äußerst umtriebigen Nacht entlassen.
Na bitte, nun, weit nach Mitternacht, durften sich endgültig die Gene meiner Urväter und Hussinetz-Gründer Nikolaus Fleger und Tobias Duschek (1680-1758) - und nicht zu vergessen - die des Alturvaters Paul Hanusch mischen!
Hänschens erster Fehltritt in Gesiniec
Wie war das doch mit dem Heuboden? Erst jetzt begreife ich, warum es bei uns da oben unter dem Dach unseres ansonsten sehr einfach ausgeführten Steinarbeiter-Hauses so eine große Freifläche gab. Und von wegen „Alles in Ehren!“, wie Erwin Günther 1931 über die Hochzeit in Hussinetz schrieb. Ist das duftende Heu nicht der eigentliche Grund für die bedenklich vielen „Unfallopfer“, die neun Monate später in die Kirchenbücher eingetragen worden sind?
Hänschen betrat jedenfalls den halb dunklen Boden in seinem Geburtshaus stets mit dem nötigen Respekt ... und erinnert sich ganz bestimmt an einen völlig anders gearteten Fehltritt: Die Holztreppe war schmal und äußerst steil. Eines Tages holte der Kleine einen kleinen, zweihenkligen Korb mit Feuerholz herunter, das heißt, er wollte es wie schon so oft tun. Beim Betreten der obersten Stufe im Vorwärtsgang (!) kam es zum Zwischenfall, genauer zum freien Fall eines Tandemkörpers. Der volle Korb flog voraus, wurde aber von beiden Händchen an den Griffen fest gehalten und „gesteuert“. Fatales Ergebnis: Erst kam der Korb an, nun prallte das Holz zurück und schließlich knallte ein kleines Gesicht in die Scheite, bevor der geschundene Knabenkörper alles bedeckte. Weinen, weinen, weinen … und niemals vergessen!
Bild 5: Hänschen, geboren in Friedrichstein alias Husynec alias Hussinetz weinte oft
in Gesiniec
Mehr über Hussinetz und Strehlen sowie die anderen böhmischen Dörfer ist zu erfahren in www.drhdl.de.