Leseprobe
Abschnitt 3.6: Das zarteste mineralische Naturwunder von Chemnitz
Gibt es in Chemnitz etwas kostbareres als die zerbrechlichen „Makkaroni“-Stalaktiten im unter Denkmal- und einst hoffentlich auch regulär unter Naturschutz stehenden Kleinen Saal der Unterirdischen Gewölbegänge im Kaßberg?
Vielleicht doch, nämlich eben die versteinerten Bäume!
Im Jahr 1760 wandte sich der Herausgeber und Autor des „Dresdnischen Magazins der Naturlehre, der Arzneykunst, der Sitten und der schönen Wissenschaften“, Michael Gröll, in einem Brief mit der Erstausgabe des Magazins aus dem Jahr 1759 als Anlage an seinen „Durchlauchtigsten Churprinzen, Sr. Königlichen Hoheit dem durchlauchigsten Fürsten und Herrn, Friedrich Christian, Königl. Prinzen in Pohlen und Lithauen, Churprinzen, Herzogen von Sachsen, Jülich, Cleve und Berg, auch Engern und Westphalen, Landgrafen in Thüringen, Markgrafen zu Meißen, auch Ober- und Niederlausitz, Gefürsteten Grafen zu Henneberg, Grafen zu der Mark, Ravensberg, Barby und Hanau, Herrn zu Ravenstein etc., meinem gnädigsten Fürsten und Herrn.“
Es war ihm ein außerordentliches Bedürfnis, den sicher weitgereisten Prinzen auf ein Chemnitzer Naturwunder aufmerksam zu machen. Der betreffende Artikel im Magazin mit der Überschrift „Zuverlässige Nachricht von einem zu Steine gewordenen Baume nebst dessen eigentlicher Abbildung“ beginnt mit folgenden Worten: „Unter allen versteinerten Dingen, die man bisher aus der Erde gegraben hat, ist unstreitig noch kein so ansehliches, und die Versteinerung ganzer Bäume so klar erweislich machendes Stück zum Vorscheine gekommen, als dasjenige, welches Herr David Frentzel ohnweit Chemnitz entdecket, und 1752 in die hiesige königl. Naturalienkammer eingeliefert hat.“ Das war nicht der letzte sensationelle Fund dieser Art am Hilbersdorfer Hang des Beutenberges, sondern eher der erste, dem viele folgen sollten, doch er war mit Abstand der schönste.
Das Städtische Naturkundemuseum hat am 17. November 2001 mit dem neuen Sterzeleanum wieder der Allgemeinheit den Zugang eröffnet zu einem der wertvollsten Dinge von Chemnitz ... aus der Schatzkammer Beutenberg. Trotzdem, es gibt heute ein im Jahr 1998 vom Autor gewissermaßen neu entdecktes konkurrierendes Naturwunder in dieser Stadt, nämlich die legendären „Zauberstäbe“ im Kleinen Saal der Unterwelt des Kaßberges!
Wir lassen die Frage nach dem Wert vorsichtshalber unbeantwortet, weil die Menschen solche Kostbarkeiten unterschiedlich bewerten. Nur Auktionshäuser könnten Klarheit schaffen, doch wir tun einen Teufel, diese anzurufen. Wir schließen uns vielmehr Marsollier (1780) bei seinem Besuch der französischen „Hexenhöhlen“ an, nämlich „dass alle diese bezaubernden Schönheiten ein Werk des sich verhärtenden oder versteinernden Tropfsteinwassers sind“, und erliegen besser dem Erleben der Natur.
Mit einigen Vorbehalten - die exakte Untersuchung steht noch aus - wollen wir uns an das Chemnitzer Phänomen jetzt, eher aus physikalischer Sicht, heranpirschen. Wir erleben im Kleinen Saal die Vorstufe der Stalagtitbildung in einer besonderen Form, nämlich außergewöhnlich zahlreich als sogenannte Makkaronis und etwas seltener als wunderliche Excentriques. Ein hängender Makkaroni- und Excentriques-„Garten“ ist einfach über-wältigend. Dahinter kann nur ein Zauber stecken, es sind wirklich zauberhafte Steine!
Außer, dass sie so überraschend zahlreich, formschön und geheimnisvoll sind, lässt sich nämlich ihre Entstehungsgeschichte ziemlich genau rekonstruieren. Insofern ist es wie mit dem Schatz der versteinerten Bäume. Gerade die Möglichkeit, das Schicksal dieser Bäume unmittelbar dem örtlichen Vulkanausbruch vor vielen, vielen Jahren zuordnen zu können, hat weltweit das besondere Interesse an diesen Verkieselungen geweckt, hat das Phänomen und damit Chemnitz sogar weltberühmt gemacht. Den zarten Chemnitzer Calcitgebilden könnte und sollte also, wenigstens regional, das Gleiche passieren.
Die Unterschiede bestehen nur im Auslöser, im Zeitplan und natürlich im Naturphänomen selbst. Im unterirdischen Kaßberg war es der Mensch, der mit seinem Kalkanstrich der Luftschutzstollen (aus hygienischen Gründen) vor nur etwa 60 Jahren die geheimnisvolle „Stäbchenlawine“ in Gang setzte.
G. Schuler (2001), ein exzellenter Kenner der „terra incognita“ und ihrer durch Tropfwasser erzeugten Naturschönheiten in aller Welt äußerte sich beim Erleben einer mit Makkaronis besetzten Naturhöhle wie folgt: „Es ist ein wahrlich nicht alltägliche Erlebnis, wenn man als erster Mensch einen solchen Anblick geboten bekommt. Hunderte, größtenteils glasklare Makkaronis mit Längen bis zu 60 cm ...“ An tausend Stück hängen mit sehr unterschiedlichen, aber teilweise auch ebenso großen Längen an der Gewölbedecke des Kleinen Saales im Kaßberg (und jährlich am Todestag des bösen Raubritters, den wir unbedingt noch kennen lernen müssen, kommt ein weiteres hinzu?)!!
Gerade wegen der Gleichmäßigkeit aller Abmessungen, d.h., einem Außendurchmesser von 5 bis 7 mm, einer inneren Röhre mit ca. 2 mm Durchmesser und einer Wanddicke von 1 bis 2,5 mm, haben die stäbchenförmigen Tropfsteine die lustige Bezeichnung Makkaroni bekommen, die manchmal sogar Einkristalle sein sollen, in der Regel aber Vielkristalle sind.
Seltener verlieren die kleinen Steinröhrchen in den Naturhöhlen der Welt beim Wachsen die Erinnerung an die Schwerkraft und folgen plötzlich nur noch den Kapillarkräften. Dann beginnt aber ein faszinierendes Feuerwerk an bizarren Formen. Treffend fanden die Höhlenforscher dafür die Bezeichnung Excentriques. Es ist ein besonderes Geschenk der Natur an uns Chemnitzer, dass sie auch die Excentriques in den Kleinen Saal projiziert hat. Man muss sie schon suchen in den Höhlen der Welt, aber hier sind sie einfach auch da!
Physikalisch einleuchtend ist für die Makkaronis folgende Entstehungsgeschichte: Das Wasser fließt mit seinen gelösten Bestandteilen der Schwerkraft folgend durch das innere Röhrchen, um dann abzutropfen. Dabei kristallisiert ein Teil der gelösten Substanzen (meistens Kalk) am unteren Rand aus, und das Röhrchen wird ziemlich formtreu ein wenig länger. Erst wenn das Kapillarröhrchen aus irgendeinem Grunde verstopft wird, fließt das Wasser am Makkaroni außen entlang. Dann lagern sich ringförmig Schicht um Schicht außen ab, und ein eigentlicher Stalaktit beginnt zu wachsen. Das Längenwachstum bei Tropfsteinen wird in der Literatur zu 0,01 bis etwa 3 mm pro Jahr angegeben. Es ist klar, der konkrete Wert hängt von vielen physikalischen Parametern ab, so z.B. von der Tropfrate (Tropfen pro Zeiteinheit) und vom Kalkgehalt des Wassers.
Die Tropfsteine in den unterirdischen Hohlräumen der Erde begeistern und faszinieren die Menschen schon seit Jahrtausenden, und mancher europäische Höhlenbär mag von einem der gelegentlich herabfallenden „Spieße“ im Schlaf überrascht worden sein, während draußen Eiszeit herrschte. Auch der berühmteste Chemnitzer, der ehemalige Bürgermeister G. Agricola, suchte nach einer Erklärung. Im Jahr 1544 stellte er in seinem Buch „Die Entstehung der Stoffe im Erdinneren“ („de ortu et causis subterraneorum“) zunächst sehr richtig fest, „dass aus bloßem Wasser kein Stein entsteht.“ Alternativ soll er an einen Saft mit der Bezeichnung „succus“ oder „humor“ gedacht haben, der zu den Ablagerungen führt. Wie nahe war er doch an der Wahrheit, zumal von ihm im o.g. Buch auch der folgende Satz stammt: „Und in den Höhlungen der Berge, die hauptsächlich aus Kalkstein bestehen, bildet das Wasser, das aus den Klüften und bestimmten Gängen tropft, Tropfsteinzapfen.“ Die Chemnitzer Tropfsteingebilde hat er nicht erlebt, denn ihre Geburtsstunde schlug erst 400 Jahre nach ihm. Sie wären ihm auch äußerst suspekt gewesen, denn der Kaßberg besteht aus allem anderen als einem Kalkgebirge. Wie kommt es hier also trotzdem zur Tropfsteinbildung?
Bleiben wir zunächst bei den Makkaronis. Wir dürfen annehmen, dass es sich in unserem Fall um sogenanntes dendritisches Kristallwachstum handelt und dabei etwa das folgende Szenario abläuft. Oberflächenwasser findet im Kaßberggebirge über dem Kleinen Saal in breiter Front und Gleichmäßigkeit eine besondere Durchlässigkeit vor, und es nimmt auf dem kurzen Weg der ca. 6 m Überdeckung eine gewisse Menge CO2 in Lösung. Jedenfalls treten an der Unterseite des Ziegelgewölbes, genauer den Mikrorissen des Kalkanstriches, viele kleinste Rinnsale punktgenau heraus. Dort nimmt das kohlensaure Wasser winzige Kalkmengen in gelöster Form auf, ehe es sich, der Schwerkraft und Kapillarkräften folgend, bis zum Abtropfen weiter nach unten bewegt. Offensichtlich geschieht das so, dass sich eine Mikroriss-Kapillare des Trägers zunächst in das aufwachsende Tropfsteingebilde fortsetzt. Dadurch fließt das Wasser - bei hinreichend geringer Tropfrate (z.B. weniger als ein Tropfen pro Stunde) - ausschließlich im Inneren dieser Kapillare, die sich zu einem Röhrchen von wenigen Millimeter Durchmesser entwickelt. Auch einmal entstandene Poren im umgebenden Festkörper werden laufend durchspült. Naturgemäß wird dem mikroskopischen Wasserstrom am unteren Ende des porösen Tropfsteingebildes eine Weile Einhalt geboten. Es formiert sich ein Tropfen. Hier hat die entspannte CaCO3-Lösung Zeit, CO2 abzugeben, wo-durch eine so hohe Übersättigung erreicht wird, dass Kalk als Calcit ausfällt. Das Röhrchen wird also ein winziges Stückchen länger. So wächst senkrecht nach unten der Makkaroni-Tropfstein. Erst wenn der Bauch des Tropfens prall genug ist, gewinnt die Schwerkraft gegenüber den Kapillarkräften wieder die Oberhand. Der Tropfen bekommt einen immer längeren Hals, um sich dann von der Kinderstube mit lautem Ultraschallgetöse zu lösen.
Im Kleinen Saal wurde das längste Stäbchen zu 50 cm Länge vermessen. Das entspricht einer Wachstumsgeschwindigkeit (50 cm in 60 Jahren) von 0,6 cm pro Jahr! Ist das etwa ein neuer Weltrekord der Makkaronis?
Wir erinnern uns noch einmal des Tropfens. Schwingend wie ein Kolibri stürzt er in sein letztes Abenteuer. Der berauschende Flug endet auf dem Fußboden in einer Katastrophe, deren Chaos mit Beteiligung weiterer CO2-Entgasung die Geburt eines Calcit-Stalagmiten auslöst. Dieser wächst unbeirrt, gleichsam als Versteinerung des Prinzips „Das Genie beherrscht das Chaos“, dem Tropfstein an der Decke entgegen. Die Stalagmiten im Kleinen Saal sind nur Kleckswinzlinge bezüglich der Höhe und haben Durchmesser von einigen Zentimetern. Dies ist ein Zeichen sehr niedriger Tropfrate und hauptsächlichem Vollzug der Chemophysik im Deckenbereich, weshalb wir von besonders gefräßigen Makkaronis sprechen können - was ja auch die außergewöhnlich hohe Wachtumsrate vermittelt - die ihrem entstellten Konterfei, den Stalagmiten, kaum noch etwas Kalknahrung gönnen.
In die Tropfstein-Gesellschaft der stolzen Abweichler mischen sich im Kleinen Saal zudem regelrechte Revolutionäre, die Excentriques. Sie entsagen weitgehend der Schwerkraft und verlassen sich mehr auf die Kapillarkräfte. Das ist abenteuerlich, denn die Kräfte in den Grenzflächen sind so vielfältig wie die Natur selbst. Man muss sich nur wundern, dass sich die Höhlenexperten so über die Eigenarten der Excentriques wundern. Aus physikalischer Sicht ist alles klar, es geht Atom für Atom und Molekül für Molekül gesetzmäßig zu, nur man muss die Gesetze erforschen. Die bestechende Symmetrie der Makkaronis geht in der Irregularität der exzentrischen Gesellen, die nicht immer klein sein müssen, scheinbar völlig verloren. Makkaronis können zudem in Excentriques übergehen und umgekehrt. Da soll noch einer durchsehen? Selbstverständlich darf daher unter Fachleuten keine Einigkeit über den Entstehungsprozess herrschen. Doch in einem sind sich die Kenner einig: Excentriques sind die „interessantesten, vielfältigsten und spektakulärsten Kristallisationen in den Höhlen der Welt“ (A. Martaud im Jahr 2001). Der Kleine Saal hütet demzufolge ebenfalls ein faszinierendes Höhlengeheimnis und kündet somit vom verblüffenden Schatzreichtum der Chemnitzer Unterwelt.
Wenn man sich in den unterirdischen Hohlräumen genauer umsieht, so entgehen einem weitere, durchaus klassische Tropfsteingebilde auch außerhalb des Kleinen Saales nicht. In ca. 20 m unterirdischer Luftlinie hat der Kaßberg (Fabrikstr. 4) ziemlich lange und dicke normale Stalaktiten hervorgebracht. Auch das ist eine große Leistung der unberührten Natur, so mitten in der Großstadt. Selbst unter der Kaßbergauffahrt im gekrümmt ausladenden äußersten Stollen des Objektes Fabrikstr. 6 - deshalb das sogenannte Periskop - findet man sie, hier in Form typischer Vorhänge. Den dafür notwendigen Kalk hat sicher ebenfalls der Mensch eingebracht, denn wir erinnern uns, das Gebirge an sich ist frei davon. Es fällt auf, dass sich über diesen Tropfsteinbereichen, zu denen auch die großen Stalaktiten des Gangsystems in Höhe Fabrikstr. 4 gehören, Fundamente der Heiztrasse befinden. Der dabei eingebrachte Kalk könnte allmählich „ausgewaschen“ werden und so eine neue „Steinzeit“ in Kaßbergs Tiefen projiziert haben. Also bitte, es ist furchtbar einfach, Tropfsteinhöhlen künstlich herzustellen.
Der gesamte betroffene Gebirgsbereich wird übrigens durch die Wärmeverluste der Trasse um ein bis zwei Grad Celsius erwärmt (Lufttemperatur der betroffenen Hohlräume: 11o bis 12o C). Dies könnte ein maßgeblicher Grund für die festgestellten relativ hohen Wachstumsraten der Tropfsteine sein, denn schon Svante Arrhenius hat uns gelehrt, dass die Reaktionsgeschwindigkeit exponentiell mit der Temperatur steigt. Man hat ja kaum einen Vergleich, denn welche Tropfsteinhöhle der Welt wird schon beheizt? Was möglicherweise dem einen die Wärme an Leben einhaucht, ist für den anderen die Kälte. Die Chemnitzer unterirdischen Gänge haben auch dieses Phänomen zu bieten. Wir müssen nur ein paar Kilometer der Annaberger Straße folgen und zweigen dann nach links in den Wasserwerkspark ab. Ein kurzer Fußmarsch am Ufer der Zwönitz führt uns rechter Hand zu echt romantischen Mundlöchern der dortigen Felsengänge. Ein Gitter gebietet uns zwar Einhalt, doch nicht der Winterkälte. (Man weiß, auch nicht den Fledermäusen.) Dort drinnen können wir, wenn Petrus es will, richtige sogenannte „Kalte Stalaktiten und Stalagmiten“ bewundern. Es sind Eiszapfen, wie sie der Schneemann gelegentlich verpasst bekommt, wenn nicht gleich eine Möhre zur Hand ist. Nun, das ist doch beinahe alltäglich. Jeder kennt die typische Kantenbesetzung der Dachrinne an sonnigen Wintertagen. Muss man deswegen gleich an Stalaktiten denken? Außerdem hat das am wenigsten etwas mit halbwegs beständigen Steinen zu tun, es sei denn, man kriegt so eine Keule auf den Kopf. Die Sonne gibt sie und die Sonne nimmt sie.
Und doch gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Wasser und Tropfen. Haben Sie schon einmal einen Eiszapfen mit der Lupe betrachtet und z.B. nach seiner „Seele“ Ausschau gehalten, die es wirklich gibt? Oder haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum das Wasser selbst an sehr langen Eiszapfen herunterläuft, ohne vollständig zu gefrieren? Das ist wirklich so, denn sonst könnte er nie so lang werden.
Nicht nachdenken müssen wir dagegen, warum die meisten Tropfsteinhöhlen der Erde und auch die meisten unterirdischen Hohlräume von Chemnitz keine Eiszapfen produzieren. Sie sind ja auch im Winter gleichmäßig „warm“! Ja, das muss sogar in der Eiszeit so gewesen sein, denn nie hätte es sonst den Höhlenbären gegeben.
Die Schatzkammer „Kleiner Saal“: Viele Makkaronis und auch wenige Excentriques (Fabrikstr. 6) - ein erstaunliches Naturwunder im Untergrund mitten in Chemnitz! “Vorhänge“ im Periskopstollen (Fabrikstr. 6)